Wirtschaft

10 Jahre Lehman-Pleite: "Wir waren alle fassungslos"

„Ich lag noch verschlafen im Bett und hörte die Morgennachrichten. Mit einem Schlag war ich hellwach.“ Wie Gerhard Rehor, damals Vorstand der Raiffeisenlandesbank NÖ-Wien, ging es an diesem Montag, den 15. September 2008, vielen Managern. Um 6.51 Uhr war in Österreich eine eher dürre Eil-Meldung über die Agentur getickert: „US-Bank Lehman Brothers insolvent – Gläubigerschutz beantragt.“

Dramatische Stunden folgten. „Für die Community war das ein Schock“, erinnert sich Heinrich Schaller, damals Chef der Wiener Börse. „Wir haben auf den Kapitalmärkten erste fast panische Reaktionen gesehen.“

Was war passiert? Das globale Finanzsystem stand tatsächlich am Rande des Abgrundes. In den Wochen davor hatten die USA schon die Immoriesen Fannie Mae und Freddie Mac aufgefangen. Bear Stearns war notverkauft, jetzt wankten Merrill Lynch und Lehman Brothers. Auch der weltgrößte Versicherer AIG stand vor dem Kollaps. Zu viele Baustellen auf einmal. Bei Lehman waren möglichen Käufern die Risiken zu groß. Und eine weitere unpopuläre Verstaatlichung lehnten beide damaligen US-Präsidentschaftskandidaten – Barack Obama und John McCain – ab.

Damit war das Schicksal des 158 Jahre alten Instituts besiegelt. „Wir waren alle fassungslos“, sagt Michaela Keplinger-Mitterlehner, schon damals im Vorstand der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich: „Lehman war eine Institution, die zwei Weltkriege überlebt hatte.“ Jetzt kündigte der Insolvenzverwalter 25.000 Bankern umgehend den Job. Die einst bis zur Arroganz stolzen Investmentbanker räumten die Tische, schleppten Umzugskartons. Bei manchen hielt sich das Mitleid in Grenzen. „Die Lehmänner hatten den schlechtesten Ruf, vor denen hatte man keine Achtung“, erinnert sich Klaus Umek, damals für den Rivalen Goldman Sachs tätig. „Vielen Investmentbankern wurde rasch klar, dass auch ihre Jobs bald weg sein würden. Und ihr Aktienvermögen nur noch wenig wert sein wird.“

Überraschender Vertrauensschwund

Noch überraschender als die Lehman-Pleite waren die Auswirkungen. „Dieses Ausmaß an Vertrauensschwund, dass der Geldmarkt austrocknet: Das war zuvor unvorstellbar“, sagt Regina Prehofer. Ihr ist der 15. September 2008 besonders intensiv in Erinnerung. Sie trat just an diesem Tag ihren Vorstandsjob bei der Bawag PSK an.

Warum konnte der Lehman-Kollaps so viel Schaden anrichten? Es gab keinen Präzedenzfall, sagt Wüstenrot-Chefin Susanne Riess. Dass es sich um eine „epochal kritische Situation“ handelte, war sofort klar. Nur: Wen würde Lehman noch mitreißen? Welche Bank war womöglich als nächste dran?

Das Misstrauen verhinderte jene bis dahin alltäglichen Geldflüsse, die Banken zum Überleben brauchen. Der Blutkreislauf im Finanzsystem stockte. „Jeder hat sofort seine Linien eingefroren“, sagt Keplinger-Mitterlehner. Das war neu: „Bis 2007 hatte Geld so gut wie nichts gekostet, das war einfach da.“

Schockmoment

Jetzt nicht mehr. Dabei war das gar nicht der erste Schockmoment. „Wo ich bei Lehman war, weiß ich nicht mehr. Wo ich am 9. August 2007 war, hingegen sehr genau“, sagt Willi Hemetsberger, damals bei UniCredit für internationale Märkte zuständig: „Ich war auf Urlaub am Wallersee, mein Telefon läutete ab 5 Uhr früh ununterbrochen.“ Schon in diesem August 2007 spielten die Märkte verrückt, in Hongkong gab es plötzlich keine Dollar mehr auf dem Markt. Die EZB reagierte sofort, pumpte binnen zwei Tagen 156 Milliarden Euro in den Markt. Hemetsberger: „Das half uns wenig, wir hätten Dollar gebraucht. Dass das der liquidesten Währung der Welt je passieren könnte, hätte ich nie gedacht.“ Die US-Notenbank Fed blieb untätig, griff erst Tage später ein.

Die Finanzkrise hatte damit Europa erfasst, die französische BNP Paribas musste drei Fonds schließen. „Es gab keinen Banker, der nicht Panik hatte“, sagt Hemetsberger. Dass es bis zum großen Crash ein Jahr dauern sollte, war für ihn überraschend.

Wie aber können Finanzinstitute austrocknen, obwohl gleichzeitig die Zentralbanken alle Geldschleusen öffnen? „Stellen Sie sich vor, Sie haben vor sich eine Reihe Gläser mit Wasser stehen“, zieht Keplinger-Mitterlehner einen Vergleich: „Sie wissen, dass in einem der Gläser Gift ist, aber nicht in welchem.“ Das spiegelt das Misstrauen wider, das plötzlich unter den Banken herrschte. Und einige, die auf ständige Geldzufuhr angewiesen waren (wie in Österreich die für bieder gehaltene Kommunalkredit) verdursten ließ.

Umgedreht

Plötzlich waren davor eher belächelte Banken die Kaiser, die auf viele Spareinlagen setzen konnten.„Bei der Bawag PSK sahen wir darin einen Vorteil und eine Chance“, erinnert sich Prehofer. „Das enorme Vertrauen unserer Kunden hat zu unglaublichen Zuflüssen von Kundengeldern bzw. Liquidität geführt“, sagt Oberbank-Chef Franz Gasselsberger.

Die grassierende Cash-Knappheit erfasste indes schlagartig auch große Unternehmen. „Für ein gutes Projekt gibt’s immer Geld: Das hatte ich in drei Jahrzehnten Management gelernt“, sagt OMV-Chef Wolfgang Ruttenstorfer. „Damals gab es aber einige Monate keins! Jedenfalls nicht zu vernünftigen Konditionen am Anleihenmarkt.“ Ruttenstorfer erfuhr vom Lehman-Crash bei Meetings in London. „Es war für mich fast unglaublich.“ Er kannte die Bank gut: Sie hatte die OMV beim Verkauf von ÖIAG-Anteilen nach Abu Dhabi oder der Chemie-Linz-Restrukturierung beraten.

Gerade zwei Wochen zuvor hatte Klaus Liebscher sein Amt als Notenbank-Gouverneur übergeben. Im ersten Moment bedauerte er das – „es wäre eine hochinteressante Zeit gewesen“. Das wich freilich rasch dem Mitgefühl für Nachfolger Ewald Nowotny. Dass die USA Lehman nicht retteten, versteht Liebscher nicht: „Wenn man die Folgen betrachtet, die abschätzbar waren, wäre die Rettung günstiger gewesen.“ Aber das sei retrospektiv natürlich sehr leicht zu beurteilen.

Chronologie -  Die Vorgeschichte der Lehman-Brothers-Pleite

Herbst 2006: Nach langem Boom kühlt sich der US-Häusermarkt ab.

2. April 2007: Die Ausfälle minderwertiger Immo-Kredite häufen sich. Die Hypothekenfirma New Century Financial ist pleite.

9. August 2007: Die Finanzkrise schwappt nach Europa: BNP Paribas setzt Auszahlungen für drei Fonds aus. Die EZB pumpt in zwei Tagen 156 Mrd. Euro in den Markt.

14. März 2008: Die US-Investmentbank Bear Stearns wird vor der Pleite bewahrt.

7. September 2008: Die US-Regierung fängt die Wohnbauriesen Fannie Mae und Freddie Mac auf.

15. September 2008: Versicherungsriese AIG und die Banken Merrill Lynch und Lehman Brothers taumeln. Der arrogante Lehman-Chef Richard Fuld (Mitte), Spitzname „Gorilla“, findet keinen Käufer. Lehman ist insolent.

16. September 2008: Alle großen Notenbanken pumpen 150 Mrd. Euro in den Markt (o. r.: Fed-Chef Ben Bernanke).