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Darmgesundheit: Was die Forschung heute weiß

Der jahrzehntelang vernachlässigte Darm ist zum trendigen Thema für Gesundheitsbewusste geworden: Kaum ein Monat vergeht ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisse, populärwissenschaftliche Bücher oder angeblich vorteilhafte Ernährungstipps. Warum eigentlich?

"Viele – besonders junge – Menschen versuchen heute, gesund zu leben. Damit rückt der Darm vermehrt ins Bewusstsein", sagt Ludwig Kramer, Leiter der Gastroenterologischen Abteilung des Krankenhauses Hietzing. Gleichzeitig habe sich in den vergangenen zehn Jahren in der Wissenschaft enorm viel getan. Vor allem die Erforschung des Mikrobioms, der bei jedem Menschen einzigartigen Besiedelung mit Bakterien, war ein Quantensprung. "Vor 30 Jahren glaubte man noch, es gibt nur einige wenige Darmbakterien‚ die im Labor kultiviert werden können. Heute wissen wir, dass es viele sind und dass ein Großteil außerhalb des Darms gar nicht existieren kann." Bei Menschen mit Darmbeschwerden ist der Darm zudem von anderen Bakterien besiedelt, als bei gesunden.

Hoffnung für manche Reizdarm-Patienten

Die bakterielle Verschiedenheit zeigte auch eine Studie, die diese Woche in Wien bei der United European Gastroenterology Week (UEG), dem größten internationalen Kongress über Verdauungskrankheiten, für großes Interesse sorgte. Bei Patienten mit schwerem Reizdarmsyndrom sind es spezielle Bakterienprofile, die Hinweise darauf geben, ob eine spezielle Diät (low-FoDMAP; dabei wird weitgehend auf Kohlenhydrate, Fruktose, Laktose u. a. verzichtet) von Nutzen ist. Diese Diät ist nämlich sehr anspruchsvoll – und wirkt nicht bei allen Betroffenen. "Daher haben wir versucht, herauszufinden, wer die größten Vorteile durch diese Diät haben wird", erklärt Studienleiter Sean Bennet von der schwedischen Universität Göteborg.

Noch in der Findungsphase

Trotz aller neuen Erkenntnisse und einer Fülle von Daten: Der Darm ist ein hoch komplexes Organ. "Wir sind in einer Findungsphase und wissen noch nicht, wie viele der Daten richtig einzuordnen sind." Kramer vergleicht den Status quo der Gastroenterologie mit der Geschichte des Magenbakteriums Helicobacter pylori. Erst in den 1980er-Jahren wurde entdeckt, dass es Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre verursacht. Davor galt eine Magenübersäuerung als Auslöser. Die australischen Entdecker – Pathologe Robin Warren und Mikrobiologe Barry Marshall – waren anfangs nicht Ernst genommen worden. "Auch damals kamen immer neue Fakten dazu", sagt Kramer. 2005 erhielten die beiden Australier schließlich den Medizin-Nobelpreis.

Studie: Weizenproteine könnten Entzündungen triggern

- Beim aktuellen UEG-Kongress in Wien sorgten noch weitere Studien für Aufsehen. Eine Studie des Uniklinikums Mainz zeigte etwa, dass eine bestimmte Proteingruppe im Weizen chronische Entzündungskrankheiten wie Multiple Sklerose, Asthma oder rheumatoide Arthritis negativ beeinflusst. Der Konsum dieser sogenannten Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) soll Entzündungen außerhalb des Darms, etwa in Lymphknoten, Nieren oder im Gehirn, fördern.

- In einer Vergleichsstudie mit 150 Morbus Crohn-Patienten in 33 Zentren in Großbritannien und den Niederlanden zeigte sich, dass die Entfernung entzündeter Klappen zwischen Dünn- und Dickdarm die Lebensqualität der Patienten mehr verbesserte, als der medikamentös eingesetzte Entzündungshemmer Infliximab.

- Eine neue Bildgebungstechnik soll frühzeitig krebsartige Veränderungen im Magen-Darm-Trakt sichtbar machen. Forscher der Universität Cambridge arbeiten an einem Verfahren, das die Anzahl der visualisierbaren Farbkanäle von bisher drei auf 50 erhöht. Das ermögliche genauere Untersuchungen, da Zellveränderungen im Gewebe farblich feststellbar sind.

Neue Diagnosekritierien veröffentlicht

Am Kongress wurden auch neue, internationale Diagnosekriterien zur Diagnose und Klassifizierung von gastrointestinalen Störungen veröffentlicht. In dieser „Rome IV“ genannten Publikation seien etwa neue Diagnosen – etwa die Wichtigkeit der Darm-Hirn-Interaktion – berücksichtigt, betont Douglas Drossman. Aber auch neue Erkrankungen und moderne Behandlungsrichtlinien werden thematisiert. Die letzten, bisher gültigen Kriterien (Rome III) stammen aus dem Jahr 2006. „Die Veränderungen zu Rome IV reflektieren unser wachsendes Verständnis für die vielen verschiednen Aspekte von gastrointernalen Störungen.“

Nehmen Unverträglichkeiten zu?

Generell scheinen Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Verdauungsprobleme zuzunehmen. Doch der Hype ist aus Sicht von Univ.-Prof. Alexander Moschen von der Uni-Klinik Innsbruck nicht gerechtfertigt. "Wissenschaftlich erwiesen ist: der Darm hat einen wesentlichen Einfluss auf unsere Gesundheit. Aber nicht jeder Mensch, der hin und wieder Verdauungsprobleme hat, hat automatisch eine Unverträglichkeit, geschweige denn eine Allergie." Nur ein bis drei Prozent der erwachsenen Österreicher haben eine echte Allergie.

Heute mehr Chemie in der Nahrung

Ein eindeutiger Faktor für die Zunahme von Unverträglichkeiten ist für Experten allerdings die veränderte Ernährung – etwa Fertig- oder sonstige Convenience-Produkte. "Viele haben Beschwerden, weil die Nahrung künstlicher wurde. Sie enthält heute mehr chemische Substanzen, die der Darm nicht verträgt", erklärt Kramer. Dazu zählen etwa Emulgatoren oder Farbstoffe. Lange Zeit wurden derartige Beschwerden als Reizdarmsyndrom mit psychischen Ursachen eingeordnet. "Mittlerweile ist aber völlig klar, dass es sich dabei um biologische Vorgänge handelt." Der Einfluss der Psyche sei zwar vorhanden, werde in diesen Fällen heute geringer eingeschätzt als früher.

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