Thema/WM2014

Pirlo, der Regisseur mit der spitzen Feder

Ich fühle keinen Druck. Am Nachmittag des 9. Juli 2006 habe ich in Berlin geschlafen und PlayStation gespielt. Am Abend bin ich hinausgegangen und habe die Weltmeisterschaft gewonnen. Andrea Pirlo

Acht Jahre später verspürt der große italienische Spielmacher noch immer nicht mehr Druck und hat noch immer genau so viel Spaß – auf der PlayStation und auf dem Rasen.

Rechtzeitig vor seinem letzten großen Turnier mit der italienischen Nationalmannschaft brachte der 35-Jährige ein Buch heraus, das mit Hintergrundgeschichten aus Pirlos Karriere beeindruckt. Der KURIER bietet einen kurzen Streifzug durch das Leben des Weltmeisters und Champions-League-Siegers.

Zurück zum 9. Juni 2006: Pirlo ist der erste Elfmeterschütze im Finale gegen Frankreich. "Wahrscheinlich, weil sie denken, ich bin der Beste. Der Weg vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt ist eine Tortur, wie bei Dead Men Walking." Dort angekommen blickt Pirlo in den Himmel. "Ich hab um Hilfe gebeten. Denn, wenn Gott existiert, ist er keinesfalls ein Franzose." Pirlo trifft, Italien siegt 5:3 im Elferschießen.

Es herrschte Ausnahmezustand. "Es ist kein Wunder, dass das blaue Trikot solche Emotionen hervorruft. Blau ist die Farbe des Himmels. Selbst wenn Wolken davor sind, weißt du immer noch, dass es dahinter ist."

Der Dirigent des italienischen Spiels weiß auch um die Wirkung der italienischen Hymne. "Wenn die ersten Takte von Inno di Mameli ertönen, dann repräsentierst du alle. Jeder Solist wird zum Teil eines Orchesters. Hätte je ein Klub Druck ausgeübt, nicht zum Team zu gehen, meine Reaktion wäre keine freundliche gewesen. Italien ist viel wichtiger als Milan, Juventus, Inter oder sonst irgendein Klub."

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Nach der WM 2006 wollte Pirlo Italien verlassen. Real Madrid und Trainer Fabio Capello wollten ihn holen. Die Primera División war schon immer der Traum. "Ich habe mich schon im weißen Trikot gesehen." Doch dann kam ein Anruf seines Managers: Es fehlte noch die Freigabe von Milan. Pirlo und Agent Tullio Tinti saßen am Tisch mit Vizepräsident Adriano Galliani. "Andrea wird zu Real gehen", sagte Tinti. Daraufhin sah Galliani Pirlo an, nahm einen Vertrag aus der Schublade und antwortete: "Andrea, mein Freund. Du gehst nirgends hin, weil du das hier unterschreiben wirst. Hier ist ein Fünfjahresvertrag. Die Summe kannst du eintragen. Was auch immer du willst."

Pirlo blieb bis 2011 bei Milan und wechselte danach zu Juventus, wo er drei Mal in Folge Meister wurde.

Wahrscheinlich war auch damals aus Pirlos Mimik nicht abzulesen, ob er sich freut oder nicht. "Mein Gesicht mit der starren Miene verrät nicht, was ich denke. Ich kann meinen Teamkollegen die verrücktesten Dinge erzählen und vollkommen ernst bleiben. Manchmal hat es mich eine Ohrfeige gekostet. Speziell, wenn ,Rino‘ Gattuso in der Nähe war." Gennaro Gattuso aus dem Süden Italiens war oft das Opfer bei den Streichen im Nationalteam und bei Milan. "Wenn er explodierte, versteckten wir die Messer vor ihm. Dann würde er sich eine Gabel nehmen und sich wehren. Manche von uns verpassten deshalb auch schon Spiele. In den offiziellen Presseaussendungen stand dann immer etwas von Muskelverletzung."

Stadt des Bösen

Den besten Teil seiner Karriere hätte Pirlo fast verpasst. Denn nach dem verlorenen Finale der Champions League 2005, in dem Milan gegen Liverpool ein 3:0 verspielte und im Elfmeterschießen verlor, hätte er am liebsten seine Karriere beendet. "Wir sind wie blutleere Zombies in der Kabine gesessen. Wir konnten uns nicht bewegen, nicht sprechen. Wir hatten eine neue Krankheit: das Istanbul-Syndrom. Ich habe mich nicht mehr als Spieler gefühlt. Schlimmer noch: nicht einmal als Mann. Seither ist Istanbul für mich die Stadt des Bösen."

Zwei Jahre später gewann Milan die Champions League – im Finale gegen Liverpool. Der Schmerz blieb dennoch: "Wir haben gefeiert. Aber sicher nicht vergessen."

„Ich denke, daher spiele ich“
2014 kam Andrea Pirlos Biografie in Englisch heraus. Aufgezeichnet von Alessandro Alciato erzählt Pirlo auf 150 Seiten u. a. von seiner harten Jugend bei Brescia, von Vertragsverhandlungen, von rassistischen Fans, von seiner Liebe zu Italien und vom Albtraum in Istanbul. Bei Amazon kostet das Buch 11,70 Euro.

"Das Ziel ist auf jeden Fall das Finale", sagt Andrea Pirlo über die WM in Brasilien. Dass die Squadra Azzurra die Qualität dafür hat, ist bekannt. Allerdings ist die Vorrundengruppe mit drei ehemaligen Weltmeistern (Italien, England und Uruguay) sowie Costa Rica kein Spaziergang.

Coach Cesare Prandelli kennt Andrea Pirlo und die meisten des Teams seit ihrer Jugendzeit. Er gilt als hervorragender Taktiker und Motivator. Die gute Form bewiesen die Italiener in der WM-Qualifikation, in der sie unbesiegt blieben, und im Conference-Cup 2013, in dem sie nach starker Leistung im Semifinale gegen Spanien erst im Elfmeterschießen ausgeschieden sind. Prandelli verpasste dem Team eine modernere Spielweise: Er will Ballbesitz und den Ball schnell zurückerobern. Die Zeiten des unspektakulären Konterfußballs sind längst vorbei.

Der Juve-Block

Die Achse der Italiener bilden die Routiniers und ein Block von sechs Juventus-Spielern: im Tor Gianluigi Buffon (36), in der Abwehr Giorgio Chiellini (29) und Spielmacher Andrea Pirlo (35). Im Angriff setzt Prandelli auf Mario Balotelli von AC Milan.

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