Thema/WM2014

Der WM-Gastgeber im Fußballfieber

Sie würde Neymar eine kosmetische Operation verpassen, bevor sie ihn küsst. Überzeugung? Frust? Eine unglaubliche Aufmüpfigkeit mit Sicherheit.

Das Mädchen ist jedenfalls nur noch Beobachterin. Hat es längst aufgegeben, sich ins von nervösen Diskussionen untermalte Schlangestehen vor dem Klubgebäude von Botafogo Rio einzumischen.

Es tobt die entscheidende Schlacht vor dem WM-Ticketschalter. Im Internet war der Spuk in einer Stunde vorbei. Sieger ist hier, wer sie in Händen hält. Die Eintrittskarte in den Himmel. Die Berechtigung, im Stadion zu sein. Nämlich dann, wenn die Seleção auftritt.

"Okay, er ist nicht mein Typ, aber Neymar ist einer, der es geschafft hat, einer der seine einzige Chance genützt hat, von ganz unten, als er wahrscheinlich nur ein Paar Turnschuhe besaß, ein echter Star zu werden. Ja, das erkenne ich an, das bewundere ich."

Wie auch immer. Ob Sexsymbol, ob Gott, oder doch realistischer, wenngleich von Fachleuten mit Skepsis beäugter Hoffnungsträger der brasilianischen Fußballverrücktheit – Neymar ist ihre Nummer 10, die große Nummer. Seine Anhänger nennen ihn kurz und knapp Joia, die Freude.

In welchem Ausmaß auch immer, der Verehrung kann sich der 22-Jährige Großverdiener beim FC Barcelona (geschätzte neun Millionen Euro pro Jahr) fast ausnahmslos sicher sein. Mehrheitlich gekreischt wird bei seinem Erscheinen, nicht selten gepaart mit einem lautstark geäußerten dringlichen Kinderwunsch. Maria Chutera werden Mädchen genannt, die sich in Trauben an die Fersen ihrer Idole heften. Maria, ein gängiger Name in Brasilien, Chutera – schlicht ein Fußballschuh.

Beziehungskiste

Neymar hält die Marketingmaschine in Schuss. Der Angreifer lässt keine Situation aus, um seine Person als Werbeträger in Position zu bringen. Im Champions-League-Halbfinale gegen Atlético Madrid ließ er gezählte fünf Mal das Trikot über Bauchnabelhöhe gleiten. Was als belangloses Tun erscheinen sollte, war jedoch ein geschickt getarnter Werbe-Striptease für einen brasilianischen Unterwäsche-Hersteller.

Die FIFA sieht so etwas nicht gerne. Und sie sieht so etwas immer. Geschaffen wurde mehr oder weniger eine "Lex Neymar". Neymar darf sie während der WM zwar zeigen, aber die Unterhose muss anonym bleiben.

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Ganz und gar nicht blieb in Brasilien verborgen, dass Neymar nach einer Beziehungspause wieder mitTelenovela-Darstellerin Bruna Marquezinein die paarweise Verlängerung ging.

Oder ist es doch nur eine Zweckgemeinschaft? Denn mit der Rückkehr an Neymars Seite erhöhte sich ihr Marktwert rapide. Genüsslich berichten Zeitungen vom Besuch der Schauspielerin auf einer Geburtstagsparty eines 13-Jährigen. Kein Akt der Nächstenliebe, 65.000 Reais (20.000 Euro) soll die Mutter des verwöhnten Knaben für den zweistündigen Auftritt hingeblättert haben.

Differenzen

Genügend Stoff für den neuesten Klatsch. Ein Vorgeplänkel. Aber was bedeuten solche Geschichten schon in einem Land, in dem über 192 Millionen Einwohner leben. Die Erwartungshaltung vor der WM ist hoch, die Meinungsvielfalt enorm, die Probleme scheinen die Menschen in Lauerstellung zu versetzen.

Alleine die unterschiedliche Mentalität zwischen den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro macht deutlich: Die Euphorie scheint alles andere denn ungeteilt und bedingungslos.

Am Tisch sitzen Rafaela, eine Paulista, und Fernando, ein Carioca. Sie sprechen über ihre Herkunft und sie sprechen gleiche Wörter anders aus. "Wir in Rio haben das Meer, das zeigt schon, wir sind relaxter. Und wir lieben den Fußball ganz einfach. Die Menschen in São Paulo sind viel ernsthafter", sagt Fernando. Und er kann überhaupt nicht verstehen, dass Felipe Scolari, Trainer des Nationalteams, in São Paulo um Zuneigung und Unterstützung betteln muss.

Dort werde es Brasiliens Mannschaft auch nicht so einfach haben beim Eröffnungsspiel am kommenden Donnerstag gegen Kroatien. Unüberhörbare Buhrufe im letzten Vorbereitungsspiel gegen Serbien (1:0) erhärten diesen Verdacht. In Rio schütteln an diesem Tag zehn Leute in einem abwärts fahrenden Lift auf die Frage, gegen wen Brasilien denn überhaupt spiele, nur den Kopf. Eigentlich egal, Hauptsache gewinnen.

Die Seleção steht unter Druck. Sie muss die undankbare Aufgabe des Stimmungsmachers erfüllen. Erreicht sie nicht mindestens das Endspiel, könnte der Unmut wieder hochkochen. Befeuert von den verabsäumten Investitionen für Bildung und Gesundheit, von der steigenden Inflation und von den Kosten für das Megaturnier.

Pfeifkonzert

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Die Störgeräusche knapp vor Start des Turniers, das immer noch ein Fußball-Fest werden soll, sind unüberhörbar. Ohrenbetäubend kommen sie aus Pfeifen einer Gruppe von Demonstranten in einer Bank auf der Avenida Rio Branco. Leute ergreifen die Flucht. Verblasen von sonst friedlichen Vertretern einer Security-Gesellschaft. Sie streiken. Das bereits seit 43 Tagen, insgesamt 50.000 Angestellte. Joao, in schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt, wie fast alle seiner Mitstreiter, gibt bereitwillig Auskunft. Sein breites Lächeln strahlt Siegessicherheit aus. "Wir erwarten noch heute eine Entscheidung", sagt er. Es geht um eine angemessene Bezahlung. Schließlich sind sie es, die für die Sicherheit für viele öffentliche Einrichtungen Mitverantwortung übernehmen. In Museen, Krankenhäusern, Banken, die in Rio teilweise schon geschlossen bleiben mussten – und nicht zuletzt auch im Maracanã, der berühmtesten der zwölf WM-Arenen. Es könne nicht sein, dass die FIFA nur ein sicheres und WM-taugliches Stadion fordere, und alles andere müsse so weiterlaufen wie bisher.

Dennoch darf sich glücklich schätzen, wer in diesen Tagen in Rio de Janeiro lebt. In São Paulo wurde am Freitag ebenfalls gestreikt. Mit viel heftigeren Auswirkungen. Weil das Personal der U-Bahn den Dienst verweigerte, brach einmal mehr das Chaos aus. Vier Millionen Menschen konnten nicht zur Arbeit.

Die Weltmeisterschaft beginnt in vier Tagen. Brasilien fiebert humpelnd ihrem Ankick entgegen.

Neymar, Brasiliens Messi(as)