Eine Kette von Katastrophen
Der verschenkte Frieden. Warum auf den Ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste“ – der provokante Titel war der Aufmacher des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel am 6. Juli 2009.
Eine heftige Auseinandersetzung unter Historikern begann. Vom „Dreißigjährigen Krieg im 20. Jahrhundert“ war die Rede, Geschichtsforscher spannten sogar den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis zu den Kriegen in Ex-Jugoslawien und den Zerfall des ehemaligen Tito-Landes in den 1990er Jahren. Die These, wonach die Nachkriegszeit gleich die Vorkriegszeit ist, wird erneut diskutiert.
„Der Erinnerungsmarathon zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs macht uns sukzessive klar, wie stark und unentwirrbar der Zweite mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung steht. Man beginnt erst langsam und mühsam, das zusammenzudenken, wie die Urkatastrophe der Moderne in einer Kettenreaktion weitere Katastrophen nach sich zog“, sagt der Chef des Österreichischen Staatsarchivs Wolfgang Maderthaner.
Hitlers Revanchismus
Maderthaner hält fest: „Die Nazis hätten niemals zu totalitärer und diktatorischer Gewalt aufsteigen können ohne die erste große globale Finanz- und Spekulationskrise 1929, ohne dem schwarzen Freitag 1931, ohne dass ein ganzes System krank und tot spekuliert worden wäre. Die Massenarbeitslosigkeit hat den Faschismus befördert und attraktiv werden lassen.“ Sein Fazit: „Man kann den ,Dreißigjährigen Krieg‘ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne die ökonomischen Verwerfungen, ohne die fatalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, nicht verstehen.“
Militarisiertes Denken
Zum Verständnis des Zusammenhanges zwischen beiden Weltkriegen gehört in Österreich auch der noch immer ungelöste Streit über die Zeit dazwischen. „Die Zwischenkriegszeit oder das Jahr 1938 wird in Österreich noch immer sehr isoliert gesehen.“ Für manche ist es aber klar, was es war: „Es hat den Austrofaschismus gegeben“, sagte bei den Republiksfeiern 2013 der angesehene israelische Publizist Ari Rath, Ex-Herausgeber der Jerusalem Post.
In Österreich hat sich in der Zwischenkriegszeit das Gefühl verstärkt, der Staat sei nicht überlebensfähig. „Es fehlte die demokratische Identität, es kam zu einer massiven politischen Spaltung“, erklärt Maderthaner. Das rote Wien gegen das konservative Land – das war die Frontlinie. „Die Sozialisten in Wien passen nicht in das System. Sie müssen entfernt werden. Das ist die entscheidende Auseinandersetzung.“
Linke und Sozialdemokraten in Österreich träumten von einem Anschluss an ein demokratisches Deutschland, die Sozialdemokratie entwickelte die Idee einer deutschen Republik. Niemand hat an Österreich geglaubt. Konservative haben dem Kaiser nachgetrauert.
Diese Situation führte zum österreichischen Bürgerkrieg im Februar 1934. Republikanischer Schutzbund und austrofaschistische Heimwehr standen einander gegenüber, mehrere Hundert Tote sind die Folge.
EU-Friedensprojekt
Die Kette der Katastrophen wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem europäischen Friedensprojekt gestoppt. „Aus der Serie der Kriege wurde gelernt. Die EU ist die Synthese“, resümiert Wolfgang Maderthaner. „Der Friedensnobelpreis 2012 war noch nie sinnvoller vergeben als an die Europäische Union.“