Aus Hirschers Schatten: Ein ÖSV-Quartett fährt ins Rampenlicht
Von Stefan Berndl
Es ist fast genau ein Jahr her, dass der ÖSV eine der schlechtesten Weltcup-Saisonen der letzten Jahrzehnte verarbeiten musste. Das erste Jahr nach dem Ende der Ära Marcel Hirscher offenbarte schonungslos die vorhandenen Schwachstellen und Probleme, die durch die Erfolge des achtfachen Gesamtweltcup-Siegers noch zugedeckt worden waren.
Das Fehlen Hirschers war jedenfalls offensichtlich, so schlecht wie in der Saison 2019/'20 hatte der ÖSV in den letzten 20 Jahren noch nie abgeschnitten. Ein Absturz, der sich abzeichnete. Und vor allem im Slalom und Riesentorlauf klaffte ein Loch, das nicht geschlossen werden konnte. Aber hat sich der Negativ-Trend auch fortgesetzt? Oder hat das österreichische Team in der abgelaufenen Saison - der letzten unter Langzeit-Präsident Peter Schröcksnadel - doch die erhoffte Wende geschafft?
Der KURIER wühlte sich durch die Weltcup-Wertungen der Saison 2020/'21 sowie jene der letzten Jahre und bereitete sie grafisch auf.
Kein Fall für den ÖSV
Das Offensichtlichste vorweg: Österreichs Fahrerinnen und Fahrer spielten wie auch letzte Saison keine Rolle im Kampf um den Gesamtweltcup. Die großen Kristallkugeln gingen - auch aufgrund der Absagen der finalen Speed-Bewerbe in Lenzerheide - an den Franzosen Alexis Pinturault und die Slowakin Petra Vlhova. Für beide war es der erste Triumph in der Gesamtwertung.
Aus ÖSV-Sicht schnitten Marco Schwarz und Katharina Liensberger am Besten ab. Schwarz, der zwischenzeitlich sogar auf Rang zwei zu finden war, schloss seine bislang beste Saison mit 814 Zählern auf Platz drei ab. Noch deutlicher war die Leistungssteigerung Liensbergers, die den Winter als Fünfte beendete und mit 903 Punkten sogar die innerösterreichische Rangliste für sich entschied.
Zwischen Aufschwung und Stagnation
Gelang dem ÖSV nun aber tatsächlich eine Trendwende nach der letzten Krisensaison? Die Statistiken sprechen dafür, doch nicht in allen Bereichen. In der Nationenwertung sammelte der ÖSV fast 1.300 Punkte mehr als in der Saison zuvor, dafür zeichnete aber vor allem das Herren-Team verantwortlich. Die Damen stagnierten hingegen auf dem Niveau aus dem Vorjahr. Was freilich auch mit verletzungsbedingten Ausfällen zu tun hatte.
Die Steigerung von Schwarz, Kriechmayer und Co. wird indes noch deutlicher bei einem Blick auf die durchschnittlich eingefahrenen Punkte pro Rennen. Waren es 2019/'20 noch etwa 108 Zähler, verbesserte sich das Herren-Team ein Jahr später um rund 36 Prozent: Im Schnitt gelangen 147 Punkte pro Rennen. Die Damen stagnierten mit 124 Punkten etwa auf dem Niveau der Vorsaison (127). Doch wie sieht es in den einzelnen Disziplinen aus?
Speed-Disziplinen als Problembereiche
Hier zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Herren konnten vor allem im Slalom und Riesentorlauf deutlich zulegen, in Super-G und Abfahrt gelang zumindest ein kleiner Schritt nach vorne. Katharina Liensberger und ihre ÖSV-Kolleginnen schafften ebenfalls in den Technik-Disziplinen einen großen Sprung nach vorne, im Speed-Bereich geht die Leistungskurve allerdings nach unten.
Tamara Tippler, die die Saison mit 483 Punkten als zweitbeste Österreicherin hinter Liensberger abschloss, konnte sich dabei von den Speed-Damen noch am wenigsten vorwerfen. Sie fuhr drei Podestplätze ein und war sowohl im Super-G als auch in der Abfahrt die erfolgreichste ÖSV-Fahrerin. Das alles reichte jedoch nicht, um einen Leistungs-Einbruch im Vergleich zur Vorsaison zu verhindern. Im Schnitt gelangen den Österreicherinnen im Super-G 130 Punkte pro Rennen (2019/'20: 163), in der Abfahrt waren es 123 (146).
Die deutlichste Steigerung gelang hingegen im Riesentorlauf, hier hielt man bei rund 91 Zählern pro Rennen. Im Jahr zuvor waren es noch 61 Punkte, und damit die schlechteste Leistung in den letzten 20 Jahren. Ebenfalls wieder nach oben zeigt die Kurve im Slalom: Hier führte Liensberger das Damen-Team zu rund 154 Punkten pro Rennen (im Vorjahr waren es 136).
Der lange Schatten von Marcel Hirscher
Auch bei den Herren war der Riesentorlauf letzte Saison noch die große Achillesferse. Mit lediglich 46 Punkten pro Rennen wies das ÖSV-Team das mit Abstand schlechteste Ergebnis seit der Jahrtausendwende auf, heuer machte man zumindest einen Schritt in die richtige Richtung. Mit im Schnitt 72 Zählern sind die Österreicher aber nach wie vor weit hinter den RTL-Ergebnissen der letzten Jahre zurück.
Eine leichte Steigerung verzeichnete indes das Speed-Team, rund um Doppel-Weltmeister Vincent Kriechmayr und Matthias Mayer. Ersterer sicherte sich nach der Absage des finalen Super-G-Rennens in Lenzerheide auch die kleine Kristallkugel. Selbiges galt für Marco Schwarz: Der 25-Jährige holte sich den Sieg in der Slalom-Wertung, zudem gab es auch noch WM-Gold in der Kombination.
Schwarz, Feller und Co. machten im Slalom jedenfalls einen großen Schritt aus dem langen Schatten Hirschers. Rund 173 Punkte pro Rennen und damit eine Steigerung von knapp 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr sprechen für das österreichische Slalom-Team.
Ein erfolgreiches ÖSV-Quartett
Mit Hirscher verabschiedete sich 2019 bekanntlich der alles dominierende Akteur im österreichischen Team von der großen Ski-Bühne. Katharina Liensberger, deren Stern heuer nicht nur dank zweier Goldmedaillen bei der Ski-WM aufging, wandelte heuer zumindest ansatzweise auf den Spuren des Superstars. So wurde die 23-Jährige fast zur Alleinunterhalterin.
Nach 31 Saisonrennen zeichnete sie sich für fast 24 Prozent aller österreichischen Damen-Punkte verantwortlich. Zudem steuerte sie gleich acht der insgesamt zwölf Podestplätze bei. Und: Liensberger war es auch, die kurz vor dem Ende der Saison doch noch die einzigen beiden ÖSV-Damen-Siege in diesem Winter einfuhr. Damit verhinderte sie eine historische Niederlage für den Verband: Es wäre die erste Saison ohne einen Sieg der Frauen gewesen.
Zum Vergleich: Bei den Herren verteilte sich die Last des Erfolges auf mehrere Schultern. Mit Marco Schwarz, Matthias Mayer und Vincent Kriechmayer konnte sich Österreich auf gleich drei Fahrer verlassen, die zuverlässig Siege und Podestplätze einfuhren. Am erfolgreichsten war Kriechmayer, der drei Rennen für sich entscheiden konnte, darunter den Klassiker in Kitzbühel.
In Summe war das Trio für nicht weniger als 20 der insgesamt 27 Podestplätze des ÖSV-Herren-Teams verantwortlich. Der einzige, der zumindest ansatzweise mithalten konnte, war Manuel Feller. Der 28-Jährige steuerte knapp elf Prozent der Punkte bei, schaffte zwei Siege und zwei weitere Podestplätze.
Der Aufstieg von Schwarz und Liensberger
Für Feller wäre sogar mehr möglich gewesen, der Tiroler ist aber nach wie vor zu inkonstant. Im Vergleich mit Marcel Hirscher, Mario Matt, Benjamin Raich und Co. weist Feller auch die höchste Ausfallquote (rund 41 Prozent) unter den besten Slalomfahrern der letzten Jahre auf. Schwarz hat sich indes zum vierterfolgreichsten ÖSV-Akteur in dieser Disziplin gemausert, mit 665 Punkten in diesem Winter näherte er sich sogar den Top-Werten Hirschers. Die unfassbare Konstanz des achtfachen Gesamtweltcupsiegers - rund 60% seiner 245 Rennen beendete Hirscher auf dem Podest - bleibt aber wohl noch lange unerreicht.
Eine ähnlich starke Leistungssteigerung wie Schwarz legte auch Landsfrau Liensberger hin. In den letzten beiden Saisonen fuhr die 23-Jährige im Slalom noch im Bereich von 250 bis 350 Punkten herum, heuer konnte sie diese Ausbeute mehr als verdoppeln. Mit 690 Zählern sicherte sie sich zudem im letzten Slalom der Saison auch noch die kleine Kristallkugel.
Wie hoch die Leistung Liensbergers einzuschätzen ist, zeigt auch ein Blick auf die Slalom-Wertungen der letzten 20 Jahre. Nur zweimal sammelte eine österreichische Slalom-Fahrerin mehr Punkte: 2007 und 2012 war Marlies Schild mit jeweils 760 Zählern das Maß aller Dinge. Die Ausbeute Liensbergers kann sich also sehen lassen: Neben drei Medaillen bei der WM in Cortina (2 Mal Gold, 1 Mal Bronze) gab es schlussendlich auch zwei Saisonsiege sowie Slalom-Kristall.
Die ÖSV-Saison: Top oder Flop?
Liensberger, Schwarz, Mayer und Kriechmayr schafften es also, den Abwärtstrend des ÖSV etwas zu stoppen und im Falle der Herren sogar leicht umzukehren. Doch wie fällt die Saisonbilanz für das österreichische Team nun tatsächlich aus? Klar ist, dass die überraschenden Erfolge bei der Ski-WM zwar etwas über die tatsächliche Situation hinwegtäuschen, die Formkurve aber dennoch nach oben zeigt.
Mit fünf Goldmedaillen (dazu einmal Silber und zweimal Bronze) gelang dem ÖSV eine der erfolgreichsten Weltmeisterschaften der letzten 22 Jahre. 1999 und 2015 reiste man ebenfalls mit fünf Goldenen im Gepäck ab. Mit insgesamt acht Medaillen liegt man zudem im Schnitt der letzten Jahre.
Im Weltcup reichte es am Ende zu drei kleinen Kristallkugeln, zwei im Slalom und eine im Super G. Damit rehabilitierte sich das ÖSV-Team für die letzte Saison, in der man erstmals seit 25 Jahren leer ausging. Erstmals seit 2007 gewann der Verband zudem beide Slalom-Wertungen, vor 14 Jahren hatte man dies Schild und Raich zu verdanken.
Finaler Jubel des Präsidenten
Eine Steigerung zur Vorsaison gab es auch bei den Saisonsiegen. Waren es im letzten Winter noch 8 Weltcup-Siege, standen heuer 10 Erfolge (8 bei den Herren, 2 bei den Damen) in 66 Rennen zu Buche. Die erfolgreichste Nation war die Schweiz, die 15 Siege einfuhr. Die Eidgenossen sicherten sich mit 10.087 Punkten auch die Nationenwertung. Österreich musste sich mit etwas mehr als 800 Punkten Rückstand wie schon im Jahr zuvor mit Platz zwei begnügen.
Die Bilanz des scheidenden ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel fiel jedenfalls positiv aus. "Wir haben ein sehr gutes Trainerteam, wir haben sehr gute Betreuer, gute Serviceleute. Das Rundherum funktioniert auch sehr, sehr gut. So gesehen dürfen wir heuer zufrieden sein", sagte Schröcksnadel, "Hoffentlich bleibt es in der Zukunft auch so."