Leben/Reise

Mali: Afrikas Afghanistan

Musik ist längst verboten, Fernsehen und Alkohol sowieso, Rauchen auch, und Kinder dürfen nicht mehr Fußball spielen. Dort, wo die Radikal-Islamisten das Sagen haben – und das sind alle drei wichtigen Städte im Norden Malis (siehe Grafik) –, ist das Leben der Menschen zur Hölle geworden. Die Gruppen, die der wirren Gedankenwelt des Terrornetzwerks El Kaida und der Taliban verhaftet sind, können schalten und walten, sie haben de facto ihren eigenen Staat. Unter den westafrikanischen Staaten, die am Wochenende zu einem Krisentreffen zusammenkommen, in Europa und auch in der UNO wächst die Sorge, es könnte dauerhaft ein zweites "Afghanistan im Westen Afrikas" entstehen.

Die selbst ernannten "Gotteskrieger" kennen kein Erbarmen. Seit rund einer Woche zerstören sie in Timbuktu Moscheen und Grabmäler, die Jahrhunderte überstanden (siehe unten) . Für die Islamisten sind die Lehm-Bauwerke Sinnbild einer illegitimen "Götzenverehrung", für die UNESCO unwiederbringliches Weltkulturerbe. "Sie begehen ein Verbrechen gegen die Geschichte der Welt", klagt der Afrika-Experte der UNESCO, Lazare Eloundou Assomo. Die Extremisten der Gruppe "Ansar Dine" lässt die Kritik kalt: "Wir werden alles zerstören. All dies ist Sünde. Wir sind alle Muslime. Was ist die UNESCO?", sagte ihr Sprecher Sanda Ould Boumana der französischen Nachrichtenagentur AFP.

Putsch

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"Ansar Dine", was in etwa "Partisanen des Glaubens" bedeutet, kämpfte im heurigen März und April gemeinsam mit Tuareg-Stämmen gegen Regierungssoldaten im Norden. Nach dem Militärputsch vom 22. März in der Hauptstadt und dem folgenden Machtvakuum hatten sie leichtes Spiel. Noch im April riefen die Tuareg ihren eigenen Staat Azawad aus (etwa so groß wie Frankreich) – ein lange gehegter Traum.

Doch das Zweckbündnis mit "Ansar Dine" war nicht tragfähig. Zwar sind diese Islamisten auch vom Volk der Tuareg, doch streben sie keine Abspaltung an, sondern wollen ihre rigide Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia, in ganz Mali durchsetzen. Bald schon vertrieben die Extremisten die Tuareg-Kämpfer der "Nationalen Bewegung für die Befreiung von Azawad" (MNLA) aus Timbuktu. In Gao triumphierte eine andere Islamistengruppe, die "Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika" (MUJAO), über das stolze Wüstenvolk der Tuareg. Um die Stadt wurden jetzt sogar Minen gelegt. Die beiden Milizen kooperieren eng miteinander und verfügen angeblich über eine pralle Kriegskasse – Einnahmen aus Lösegeldzahlungen nach Entführungen von Europäern und aus dem Kokain- und Zigarettenschmuggel. "Ansar Dine" und MUJAO unterhalten auch enge Beziehungen nach Norden zur "El Kaida im Islamischen Maghreb" (AKIM) und nach Süden zur Terrororganisation "Boko Haram", die in Nigeria fast jeden Sonntag Anschläge auf christliche Kirchen verübt. Zudem gibt es Meldungen, dass in Nord-Mali bereits Terrorcamps eingerichtet wurden – wie an der pakistanisch-afghanischen Grenze.

 

Flucht

Insgesamt sind schon 300.000 Menschen geflohen. Die, die blieben, leiden psychisch unter der islamistischen Knute und physisch, weil sie von den Nahrungsmittellieferungen aus dem Süden abgeschnitten sind.

Seit Wochen bereitet die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) die Entsendung einer Eingreiftruppe vor – und wartet immer noch auf grünes Licht vom Weltsicherheitsrat, um einzumarschieren. Wobei auch im mächtigsten UN-Gremium ein Grundkonsens besteht: Die Entstehung eines "El-Kaida-Staates" in Afrika muss verhindert werden.

Hintergrund. Timbuktu - "Die Perle der Wüste"

Seit 1988 zählt die sagenumwobene malische Wüstenstadt Timbuktu zum Weltkulturerbe der Menschheit. Vom Glanz vergangener Zeit zeugen die Lehm-Moscheen und -Mausoleen, die jetzt von Islamisten barbarisch zerstört werden (siehe oben) .

Einer Überlieferung zufolge wurde Timbuktu schon im fünften Jahrhundert von einem Tuareg-Stamm gegründet. Nach einer langen Wanderung sollen die Nomaden ein Lager errichtet haben, das von einer Frau namens Buktu bewacht worden sein soll. Nach und nach sei daraus Tim-Buktu, Buktus Ort, geworden.

Seinen kulturellen und spirituellen Höhepunkt erlebte Timbuktu, auch "Perle der Wüste" genannt, im 15. und 16. Jahrhundert. In dieser Epoche war die Stadt prägend für den Islam in Afrika und dessen Verbreitung. Die Sankore-Universität zog Gelehrte, Architekten und Ingenieure an. Bald kamen Reisende aus fernen Ländern in die Metropole der weisen Männer. Während dieses "Goldenen Zeitalters" wurden über Karawanenrouten intensive Handelsbeziehungen nach Nordafrika, Europa und den Nahen O­sten unterhalten.

Interne Streitigkeiten und Kämpfe leiteten den Niedergang ein. Auch die zunehmende Bedeutung der Seewege nach Westafrika führte allmählich zum Niedergang.