Was der Kanzler von Star-Virologen Drosten lernt
Von Christian Böhmer
Ein Backsteinbau in Berlin-Mitte, unweit des Spreebogens. In dem Klinkergebäude wurden vor 100 Jahren hoch ansteckende Kinder behandelt. Heute sitzt hier die Verwaltung der Charité, eine der größten Uni-Kliniken Europas. In der Corona-Pandemie war die Charité Berlins Schwerpunktspital in Sachen Covid-19. Und das liegt – auch – daran, dass hier Christian Drosten forscht.
Der 49-Jährige gilt als der Experte für Coronaviren. Jahre vor der Pandemie hat er das System der PCR-Testungen mit entwickelt; er hat Kanzlerin Angela Merkel in der Krise beraten, sein Corona-Podcast wurde 41 Millionen Mal heruntergeladen, kurzum: der Mann war ein Medien-Star und omnipräsent.
Bis vor einigen Wochen.
„Professor Drosten hat sich stark zurückgenommen. Er will sich wieder voll auf seine Arbeit konzentrieren“, sagt ein Sprecher der Charité auf dem grünen Rasen vor dem Backsteinbau.
Anfeindungen, Morddrohungen und parteipolitische Kritik sind dem Wissenschaften letztlich zu viel geworden. Und deshalb wird Besuchern heute nicht einmal verraten, wo genau der Virologe sein Büro hat – er hat Polizeischutz, man müsse verstehen.
Drosten macht sich also rar. Doch an diesem Dienstag macht er eine Ausnahme.
Denn der Virologe hat einen besonderen Gast. Bundeskanzler Sebastian Kurz ist einen Tag in Berlin. Der hat Parteifreund Wolfgang Schäuble (CDU) getroffen, auch diverse Konzernchefs. Und am „Tag der Industrie“ des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) hält er ein Impulsreferat, bei dem er viel Applaus einheimst, als er sagt, „dass Europa in jeder Hinsicht wettbewerbsfähig bleiben muss“.
Doch zurück in die Charité: Hier will sich der Österreicher auf den Letztstand bringen. Über die Delta-Variante, allfällige Mutationen – und wie Europa möglichst schnell wieder zu Kräften kommt.
Als der Kanzler und der Virologe nach ihrem Austausch gemeinsam auf dem Rasen vor dem Backsteinbau stehen, will der Mediziner am liebsten gar nichts sagen. Freundlich steht er im Hintergrund, die Bühne gehört dem Kanzler und Drostens Chef, dem Vorstandsvorsitzenden der Charité Heyo Kroemer.
Was Kurz aus diesem Treffen mitgenommen hat? Wichtig ist nicht, welche Variante des Coronavirus gerade in Europa oder Österreich zirkuliert, sondern etwas völlig anderes, nämlich: dass möglichst viele Menschen möglichst bald geimpft sind.
„Wer nicht geimpft ist, wird sich irgendwann ziemlich sicher anstecken. Vielleicht nicht gleich im Sommer, aber dann eben in einem halben Jahr – denn das Virus verschwindet nicht.“
Die einzig logische Konsequenz könne daher nur sein, die Menschen zum Impfen zu bewegen. Denn es sei undenkbar, „dass sich alle einschränken müssen, weil sich einige Wenige nicht impfen lassen wollen“.
Virologe Drosten verzieht bei alldem keine Miene, geschweige denn dass er die Nähe der Mikrofonstangen sucht. Doch Herr Drosten ist ein höflicher Mann. Und als ihm eine Journalistin zuruft, er möge doch bitte kurz umreißen, welchen Ratschlag er für einen Mann wie Sebastian Kurz parat hat, da bricht er für ein paar Sätze sein selbst auferlegtes „Schweigegelübde“. Heraus sticht dieser Satz: „Der Zusammenhang zwischen Fallzahl und Krankheitslast wird verloren gehen.“ Das klingt technisch und ziemlich unspektakulär. Dahinter aber steckt die berechtigte Vermutung, dass sich Geimpfte zwar weiter mit Corona anstecken, aber nur selten in einem Spitalsbett landen werden.
Ist die Pandemie für Geimpfte also wirklich erledigt? Christian Drosten würde das so nie sagen. Das wäre ihm zu platt, zu unwissenschaftlich. Und zwar mit oder ohne „Schweigegelübde“.