Woran das Gesundheitssystem krankt
"Als Unfallchirurgen haben wir eine ziemlich dicke Haut, aber jeder von uns überlegt, sich einen anderen Job zu suchen", sagt Hans T. (Name geändert), Arzt im Wiener Donauspital. Wegen akuten Personalmangels kommen er und seine Kollegen bei Nachtdiensten auf der Unfallambulanz kaum mehr zum Verschnaufen: "Konnten wir früher noch unsere fünfstündige Ruhezeit einhalten, sind wir mittlerweile durchgehend auf den Beinen."
Die Ärzte im Donauspital haben besonders unter der mangelhaften Koordination der Rettungszufahrten zu leiden. Weil andere Häuser in der Nacht oftmals keine Zufahrten mehr annehmen, landen übermäßig viele Patienten im Donauspital. "Zuletzt war ich alleine in der Ambulanz und musste mich in fünf Stunden um 30 Rettungstransporte kümmern", erzählt der Arzt. Die Folge seien enorme Wartezeiten. "Zuletzt dauerte es bei einem Patienten mit einer Thrombose in einer Hirnarterie sechs Stunden bis zum CT-Befund, innerhalb dieser Frist muss aber optimalerweise eine Lyse-Therapie erfolgen, ansonsten drohen neurologische Schäden."
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Auch auf der Notfall-Ambulanz müssten Patienten oft mehrere Stunden warten, schildert der Arzt. Immer wieder komme es deshalb zu hitzigen Auseinandersetzungen, bei denen mitunter sogar der Sicherheitsdienst eingreifen müsse.
Enorme Wartezeiten gibt es aber auch in anderen Bereichen: Zuletzt war es vor allem in Ostösterreich keine Seltenheit, dass Patienten Monate ausharren mussten, um einen CT- oder MRT-Termin zu bekommen. Nicht besser geht es solchen, die eine Operation benötigen: Die Wiener Patientenanwaltschaft hat etwa in ihrem jüngsten Jahresbericht einen Fall einer 62- Jährigen dokumentiert, die trotz starker Schmerzen 18 Monate lang auf eine Hüft-Operation warten musste.
Krebstherapie
Massive Probleme gibt es auch bei der Krebs-Strahlentherapie. In den Wiener Gemeindespitälern müssen 62 Prozent der Patienten Wartezeiten von bis zu mehreren Wochen in Kauf nehmen, die über den medizinisch vertretbaren Zeitraum hinausgehen. Das hat zuletzt der Stadtrechnungshof beanstandet. Eine Entspannung ist erst mit der geplanten Anschaffung zusätzlicher Geräte in Sicht, die als Reaktion auf den Bericht angekündigt wurde.
"Die Wartezeitenproblematik ist nicht vom Tisch – und tendenziell verschlechtert sich die Situation", sagt Gerald Bachinger, Patientenanwalt in Niederösterreich und Sprecher der österreichischen Patientenanwälte (siehe auch Subgeschichte unten). "Vor zehn Jahren war das Thema nicht auf meiner Agenda."
Er kritisiert, dass es keine österreichweite wissenschaftliche Evaluierung gebe. "Bei Grauer-Star-Operationen gibt es Patienten, die in Niederösterreich mehr als ein Jahr lang auf den Eingriff warten mussten. Wenn man bedenkt, dass es sich um ältere Menschen handelt und schlechtere Sicht ein erhöhtes Sturzrisiko bedeutet, ist das sehr problematisch."
Bei Kontrolluntersuchungen bei niedergelassenen Augenärzten betrage die Wartezeit bis zu vier Monate. "Die Problematik wird auch deshalb sichtbarer, weil die Patienten nicht mehr so viel stillschweigend hinnehmen wie das früher der Fall war."
Auch bei den CT- und MRT-Untersuchungen sei das Thema Wartezeit noch nicht gelöst. Zwar gibt es eine Vereinbarung, dass Patientinnen einen MRT-Termin in spätestens 20 und einen CT-Termin in spätestens zehn Arbeitstagen bekommen sollen: "Aber die tritt erst mit 1.1.2018 in Kraft", sagt Bachinger.
All das passiert in einem Land, das sich dafür rühmt, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu haben und das gerechnet auf die Einwohnerzahl so viele Ärzte wie kaum ein anderes Land hat (siehe Grafik).
Die Abstimmung zwischen stationärem und niedergelassenem Bereich fehlt
Für die Ökonomin Maria Hofmarcher sind die Wartezeiten auf MRT/CT-Untersuchungen ein Paradebeispiel dafür, was im heimischen Gesundheitssystem schief läuft: "Es fehlt eine Abstimmung zwischen stationärem und niedergelassenem Bereich, zudem gibt es keine transparenten Informationen, welche Ressourcen überhaupt zur Verfügung stehen", sagt die Expertin. "Einerseits erschweren die Krankenkassen aus Kostengründen den Ärzten den Zugang zu Kassenverträgen, andererseits gibt es radiologische Abteilungen in den Spitälern, die nicht ausgelastet sind."
Ob ewige Wartezeiten oder aber überfüllte Spitalsambulanzen – hinter all diesen Problemen würde laut Hofmarcher "das Elend der fragmentierten Finanzierung des Gesundheitssystems" stecken. Heißt konkret: Spitalsambulanzen werden aus dem Krankenhausbudget (Gelder des Bundes, der Länder und der Sozialversicherungen) finanziert, niedergelassene Haus- und Fachärzte von den Krankenkassen, die Pflege wiederum aus Geldern der Länder.
Geld aus einer Hand
"Anstatt an diesem System weiter ideenlos herumzudoktern, bräuchte es endlich eine Zusammenführung der Finanzierung auf Ebene der Bundesländer", fordert die Expertin. So ließe sich dann auch die Versorgung durch Haus- und Fachärzte besser mit jener in den Spitalsambulanzen und auch der Pflege abstimmen.
Ein Schritt in diese Richtung sei das neue PHC-Gesetz, das Hausärzten ermöglichen soll, sich unter einem Dach mit Kollegen und Vertretern anderer Gesundheitsberufen (z.B. Pflege) oder zu Netzwerken zusammenzuschließen. "Dennoch ist zu befürchten, dass es ein Rohrkrepierer wird, weil wichtige Aspekte weiterhin nicht möglich sind – etwa, dass Ärzte andere Ärzte anstellen können", sagt die Ökonomin.
Geht es nach Hofmarcher, würden auch neun Krankenkassen – eine pro Bundesland – völlig genügen. Unter dem Dach des Hauptverbandes, der dafür sorgt, dass bestimmte Vorgaben des Bundes eingehalten werden.
Gerald Bachinger ist Patientenanwalt in Niederösterreich und Sprecher der österr. Patientenanwälte.
KURIER: Wird das Gesundheitssystem in Zukunft noch finanzierbar sein?Gerald Bachinger: Auch wenn wir statt derzeit elf Prozent statt 15 Prozent des BIP für die Gesundheitsversorgung aufwenden: Es kommen neue Herausforderungen – steigende Lebenserwartung, mehr chronisch Kranke, mehr Patienten mit Demenz, viele neue, teure Therapien. Man muss der Bevölkerung sagen, dass wir uns nicht alles werden leisten können, dass die Ressourcen begrenzt sind. Wir haben jetzt schon Rationierungen, die auf der Ebene zwischen Behandler und Patient ausgetragen werden. Das ist aber keine Lösung – es braucht, wie in den nordischen Staaten, eine transparente Diskussion auf höherer Ebene. Aber nicht über Rationierungen, sondern über Priorisierungen.
Was bedeutet das? Wir müssen die Diskussion führen: Wo gibt es für die eingesetzten Mittel den maximalen Patientennutzen? Wo investieren wir am meisten? Und das darf nicht dort sein, wo verschiedene Lobbys am lautesten aufzeigen, sondern wo wirklich der größte Bedarf herrscht.
Und was sollte sich in Zukunft sonst noch ändern? Dieses Nebeneinander – und oft auch gegeneinander – von niedergelassenem und stationärem Bereich muss aufhören. Wichtig ist ein Verantwortungsträger – bundesweit oder zumindest länderweise. Das Spital wird zum Gesundheitszentrum – wo es nicht auf die Bettenzahl ankommt, sondern das Angebot viel umfassender ist. Mittel- bis langfristig wird man auch die niedergelassenen Facharztordinationen verstärkt in die Spitäler hineinholen.
Also nicht nur weniger Hausärzte, auch weniger Fachärzte im niedergelassenen Bereich? In die Richtung wird es gehen. Die Primärversorgungszentren (PHC) werden eine umfassende Basisversorgung anbieten – in einem zeitlichen und fachlichen Umfang, wie es in einer Einzelordination nie möglich ist. Dazu wird es aber notwendig sein, dass in diesen Zentren wirklich alle Gesundheitsberufe gleichberechtigt zusammenarbeiten – etwa Ärzte, Pflegepersonal, verschiedene Therapeuten aber auch Apotheker. In den Spitälern werden die Spezialkompetenzen konzentriert, und sie werden eng mit den Primärversorgungszentren kooperieren. Patienten, die in ein PHC gehen, könnten einen finanziellen Bonus bekommen. Wichtig wird auch sein, digitale Systeme und Plattformen, die Ärzte bei der Entscheidung für Diagnosen und Therapien unterstützen, viel stärker als bisher einzusetzen.
Sonntag, 10 Uhr: Im Warteraum des Kindermedizinischen Zentrums Augarten (KIZ) in Wien wird Petra Nastisinova mit ihrer Tochter Emilia bereits nach 15 Minuten aufgerufen. Das 17 Monate alte Mädchen ist vor einigen Tagen im Park hingefallen. Eine Wunde an der Hand hatte sich danach entzündet, sie wurde im KIZ versorgt, am Sonntag stehen Wundkontrolle und Verbandswechsel an. „Wenn Emilia etwas braucht, bekomme ich immer am selben Tag einen Termin – und muss nie lange warten.“
Zwei Ärzte – meist Ärztinnen – sind Samstag und Sonntag von 9 bis 13 Uhr im Dienst. Acht Kinderärztinnen und zwei Allgemeinmediziner arbeiten unter der Leitung des Kinderarztes Helmuth Howanietz in dem „Ambulatorium für Kinderheilkunde“. Unter der Woche ist es von 9 bis 18 Uhr geöffnet, Mittwoch bis 20 Uhr. 70 bis 80 Patienten kommen an einem Wochenende, unter der Woche sind es rund 150 pro Tag. Je drei Ärzte sind am Vormittag und Nachmittag im Einsatz. Die meisten haben Verträge für zehn bis 15 Stunden. Eine Kinderpsychologin, eine Physiotherapeutin und eine Diätologin sind ebenfalls im Team.
„Auch die allgemeine Kinderheilkunde wird immer komplexer. Jede unserer Ärztinnen hat einen Schwerpunkt – meine sind zum Beispiel Allergie, Lunge und Ultraschall. Es wäre arrogant zu sagen, ich bin Spezialist für alles, das ist heute nicht mehr möglich“, betont Howanietz. „Mehr als 90 Prozent aller Erkrankungen in der Kinderheilkunde können wir ambulant bei uns behandeln. Und dadurch, dass wir sieben Tage in der Woche geöffnet haben, sind eine kontinuierliche Therapie und Kontrolle gewährleistet.“Alle Mitarbeiter würden das Arbeiten im Team und den fachlichen Austausch sehr schätzen– „bei uns gibt es auch keine Hierarchie zwischen den Berufsgruppen“.
Die Umsetzung dieses Zentrums „war ein schwieriger Weg, knapp zehn Jahre nach der Gründung bekamen wir 2016 den Bescheid für ein Ambulatorium. Aber ich bin überzeugt, dass unsere Form des Arbeitens die Zukunft ist.“