Schengen-Veto: Bulgarischer Experte fordert Zahlen-Wahrheit von Wien
Österreichs Veto gegen Bulgariens Beitritt zum Schengen-Raum hat für Kritik nicht nur vonseiten der Regierung in Sofia, sondern auch von regierungskritischen Experten gesorgt. Tihomir Bezlov, einer der angesehensten Sicherheits- und Migrationsforscher in Bulgarien, erachtet das Veto als nicht nachvollziehbar. Bezlov fordert, sich die Zahlen der irregulären Migranten genauer anzuschauen. Das österreichische Innenministerium reagiert mit einem Verweis auf die Dunkelziffern.
Österreich argumentiert, dass in Österreich 2022 mehr als 100.000 Migranten aufgegriffen worden seien. Laut Innenministerium kamen 40 Prozent aus der Türkei über Bulgarien, vor allem Menschen aus Afghanistan, Syrien, Marokko, Ägypten und Somalia.
Befragung versus biometrischen System
"Im Gegensatz zu Österreich, das sich auf Befragungen der Aufgegriffenen beruft, analysieren wir die Angaben der im europäischen Fingerabdruckidentifizierungssystem AFIS biometrisch erfassten Migranten auf der Durchreise. Das heißt, bei der Einreise aus der Türkei, bei Festnahmen im Landesinneren und bei der versuchten Ausreise nach Serbien in Richtung Westeuropa", sagte der Mitbegründer der Sicherheits- und Migrationsforschung am Sofioter Think Thank CSD (Zentrum für Demokratiestudien) im Gespräch mit der APA in Sofia.
Und genau da werde es interessant, denn an der Westgrenze zu Serbien könne man abgleichen, wer bereits bei der Einreise aus der Türkei oder beim Aufgreifen im Landesinneren erfasst worden ist. "55 Prozent der Migranten schaffen es, durch Bulgarien zu reisen, ohne aufgehalten zu werden. 2022 wurden etwa 18.000 illegale Migranten registriert. Wenn das etwa die Hälfte aller ist, dann liegt die Gesamtzahl der illegalen Grenzübertritte in Bulgarien bei rund 37.000", rechnet Bezlov vor.
"Unzureichend"
Der Leiter der Schleppereibekämpfung im österreichischen Bundeskriminalamt Gerald Tatzgern wies die Angaben Bezlovs zurück. "Die Aussagen des bulgarischen Migrationsforschers beschreiben das Problem völlig unzureichend. Sich auf Zahlen von registrierten illegalen Migranten zu beziehen, heißt das riesige Dunkelfeld an nicht registrierten Flüchtlingen zu ignorieren", erklärte Tatzgern in einer Stellungnahme des Innenministeriums.
"Mehr als 100.000 Aufgriffe an der burgenländisch-ungarischen Grenze von Jänner bis November 2022 - 75.000 davon nicht registriert - sind ein deutliches Zeichen, dass der Außengrenzschutz nicht funktioniert", betonte Tatzgern weiter. "Dass es an der bulgarisch-türkischen Außengrenze massive Schleppertätigkeit und damit verbundene illegale Migration gibt, ist evident." Das zeigten auch die Festnahmen durch bulgarische Ermittler in den letzten Tagen.
Wien schweige absichtlich
Der bulgarische Experte ging auch auf die Angaben Österreichs über die 75.000 nicht-registrieren Migranten ein. "Warum weigert sich Wien zu sagen, in welchem EU-Land auf der Balkanroute jene 25.000 Migranten biometrisch erfasst worden sind, die es bis nach Österreich geschafft haben", fragte Bezlov. Das wäre besonders hilfreich, denn anhand dieser Angaben könne man die Fluchtrouten nachzeichnen.
Dem Migrationsforscher zufolge schweige Wien absichtlich, denn es würde ein "schlechtes Licht" auf die EU-Länder Griechenland und Kroatien werfen. "Kroatien ist dem Schengen-Abkommen beigetreten und gewährt bekanntlich Österreich Zugang zu seinen Flüssiggasterminals", erklärte Bezlov. "Man sollte die ganze Wahrheit über die Zahlen sagen", forderte er.
"System wird nicht besser"
"Wenn Bulgarien und Rumänien nicht beitreten, wird das System dadurch nicht besser", sagte Bezlov. Die österreichische Argumentation, dass das Schengensystem nicht funktioniere und es sich um ein sicherheitspolizeiliches und kein wirtschaftspolitisches Problem handle, sei "nicht ganz schlüssig". Wie wolle man ein Problem lösen, indem man anderen EU-Mitgliedern schade, fragte er. Denn der Schengen-Beitritt bedeute bei weitem nicht nur zehn Minuten weniger Schlange stehen am Flughafen, sondern würde einen erheblichen Wettbewerbsnachteil abschaffen, so der Experte.
Bezlov erläutert seinen Standpunkt anhand eines Beispiels: "Die bulgarischen Lkw stehen heute manchmal zwei bis drei Tage an den Grenzen an. Im Maschinenbau und in der Autobranche, wo man die Ersatzteillieferungen auf die Minute plant, ist das eine Katastrophe. Im Vergleich zu den westeuropäischen Mitbewerbern verlieren die bulgarischen Hersteller und Speditionen das Rennen noch am Start", führte Bezlov an. Und fügte hinzu, dass mit rund 200 Unternehmen Bulgarien in der Herstellung und Zulieferung von Ersatzteilen für die großen Autokonzerne führend in Europa sei. "Das kostet Geld - es sind Hunderte Millionen Euro im Jahr, die der bulgarischen Industrie entgehen."
Innenpolitische Grüne hinter Schengen-Veto
Hinter dem Schengen-Veto vermutet Bezlov im APA-Interview innenpolitische Gründe. "Die österreichische Regierung hat große Schwierigkeiten mit der FPÖ", meinte der Experte. Zudem liege das Migrationsthema Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) als ehemaliger Innenminister besonders am Herzen. "Und da das Thema für die ÖsterreicherInnen sehr relevant ist, nutzt er es aus", kommentierte Bezlov.
Ihm zufolge hat aber die deutlich gestiegene Zahl der illegalen Grenzübertritte in Bulgarien zugleich auch mit der politischen Krise im Land zu tun. Bulgarien steuert im Frühjahr auf die fünfte Parlamentswahl binnen zwei Jahren zu und wird seit 2020 fast durchgehend von Übergangsregierungen geführt. "Das Innenministerium leidet darunter, denn jede neue Regierung tauschte nicht nur den Minister, sondern gleich auch die Chefs in der Grenzpolizei aus. So ist keine Kontinuität bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu gewährleisten, und die illegale Migration gehört definitiv dazu", so der Sicherheits- und Migrationsexperte Bezlov gegenüber APA.