Wie die Grünen die Wahl überleben sollen: "Augen zu und durch"
Im Frühjahr der Bruch mit der eigenen Jugendorganisation, im Mai der plötzliche Rücktritt der langjährigen Parteichefin Eva Glawischnig, und jetzt die drohende Kandidatur des ehemaligen Spitzenmandatars Peter Pilz: Die Grüne Partei ist in den vergangenen Monaten ordentlich ins Trudeln geraten, und die neue Frontfrau Ulrike Lunacek hat man bis dato kaum zu Gesicht bekommen. Heute tritt sie erstmals als Spitzenkandidatin im Fernsehen auf (Puls4, 20.15 Uhr).
Was von ihr zu erwarten ist und was die Grünen jetzt tun müssen, um zu überleben, hat der KURIER den Meinungsforscher Peter Hajek gefragt.
Peter Hajek: Das könnte an der Aufgabenteilung liegen: Ingrid Felipe ist Parteichefin, Albert Steinhauser Klubchef. Die Probleme rund um Peter Pilz sind Thema in der Partei. Ulrike Lunacek ist Spitzenkandidatin, und es kann ganz klug sein, sie aus dem internen Hickhack herauszuhalten.
Was wird von ihr als Spitzenkandidatin erwartet?
Ihre Aufgabe ist es, Themen zu besetzen und nach außen zu verkaufen, und gleichzeitig Wähler abseits des Grün-Spektrums an sich zu binden. Soweit das Kampagnen-Handbuch.
So einfach geht es also nicht?
Die Partei hat zwei Probleme: Einerseits der überraschende Abgang von Eva Glawischnig, und eine Aufgabenteilung (Felipe, Steinhauser, Lunacek), die etwas heikel ist, da es viel interne Abstimmung benötigt. Dazu noch die rasche Inthronisierung von Ulrike Lunacek und ihr Wunsch, trotz Wahlkampfs zumindest teilweise noch in Brüssel als EU-Abgeordnete zu bleiben. Andererseits der Abgang von Peter Pilz. Ein Spitzenmandatar, der austritt und vielleicht eine eigene Liste macht – es gibt leichtere Ausgangssituationen.
Wie könnten sich die Grünen gegen Pilz behaupten?
Mit Pilz ist eine zweite Front offen, sofern er wirklich antritt: Man kann sich jetzt nicht mehr nur auf den klassischen Mitbewerb und den Dreikampf ÖVP/SPÖ/FPÖ konzentrieren, sondern muss auch zum ehemaligen Grün-Mandatar einen klaren Schnitt machen. Mit ihm gäbe es eine zweite Grün-Partei. Und dann wird es im linken Spektrum eng – dasselbe Problem haben in Deutschland gerade SPD, Grüne und die Linke.
Welche Themen sollen die Grünen besetzen?
Natürlich die Klassiker Gleichberechtigung, Umwelt und eine andere Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. Das wird aber zu wenig sein, es braucht einen Damm zu Peter Pilz und noch einen emotionalen Anker.
Was könnte so ein Anker sein?
Sehr, sehr schwierig. Wenn ich das wüsste, würde ich schon mit Frau Lunacek telefonieren und ihr eine Rechnung schicken (lacht). Grundsätzlich ist das Problem der Grünen, dass sie sich kaum weiterentwickelt haben, da hat Peter Pilz mit seiner kritischen Analyse durchaus recht: Man hatte einen zu engen Fokus. Was man jetzt nicht mehr schaffen wird, ist ein Befreiungsschlag, also mit einem ganz neuen Thema eine andere Zielgruppe ansprechen. Das macht jetzt Pilz, sofern er antritt.
Haben sie dann überhaupt eine Chance bei der Nationalratswahl?
Dass sie Verluste haben werden, ist klar. Wichtig ist nur, dass sie so wenig wie möglich von den 12,4 Prozent, die sie bei der Wahl 2013 erreicht haben, verlieren. Ich gebe aber zu bedenken: Wir haben jetzt erst Mitte Juli. Man kann noch in aller Ruhe abwarten, bis sich die Nebel lichten, sich stabil aufstellen und Mitte August losstarten.
Die Grünen sind ja in einigen Landesregierungen – können sie die Wahl retten?
Die Grünen haben gut funktionierende Landesorganisationen. Wenn es gelingt, die auf Linie zu bringen, hat man durch diese Strukturen einen Vorteil, die ein Peter Pilz nicht hat.
Welche Strategie schlagen Sie also vor?
Die Grünen müssen sich jetzt auf ihre Stärken besinnen und – wie im Fußball – aus einer gesicherten Defensive heraus spielen. Vielleicht gelingt es, ein Tor zu schießen, denn irgendeine Chance gibt es immer. Und dann das 1:0 halten, bis die 90 Minuten vorüber sind. Eine Starstürmerin, die man in der Verlängerung ins Feld schickt, wird es nicht geben. Mit anderen Worten: Augen zu und durch.
Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments und grüne Delegationschefin Ulrike Lunacek wird als Spitzenkandidatin in die Nationalratswahl am 15. Oktober gehen. Das bedeutet ein Sprung aus einer etablierten Position in der Europäischen Union in eine ungewisse Zukunft der Öko-Partei.
Angesichts des innenpolitischen Chaos der vergangenen Woche - Rücktritt von ÖVP-Chef Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, Übernahme der Volkspartei durch Außenminister Sebastian Kurz und dem de facto Bruch der Koalition sowie Neuwahlen im Oktober - und den schlechten Umfragedaten für die Grünen könnte sich eine Entscheidung für die Grünen-Spitze als Himmelfahrtskommando erweisen. Mit einem Zuwachs der Grünen bei den Wahlen wird praktisch nicht mehr gerechnet, es geht eher darum, ein stärkeres Abrutschen zu verhindern.
Stabilitätsfaktor
Lunacek, die in einer Woche ihren 60. Geburtstag feiert, hat sich in den vergangenen Jahren nach anfänglichen Querelen mit Johannes Voggenhuber als Stabilitätsfaktor der Grünen auf nationaler und internationaler Ebene erwiesen. Seit 2013 ist sie auch Vizepräsidentin der Grünen Fraktion im EU-Parlament und Kosovo-Berichterstatterin. Beim vergangenen EU-Wahlkampf 2014 konnten die Grünen deutlich zulegen. Lunacek legte einen fehlerfreien Wahlkampf hin, war sachlich versiert und machte sich auch im EU-Parlament selbst einen Namen.
Gekämpft hat Lunacek für so ziemlich alles, was sie bisher erreicht hat. Ihr Selbstbewusstsein schöpfte die bekennende Lesbe unter anderem aus ihrem Einsatz für die Rechte Homosexueller. Lunacek wurde am 26. Mai 1957 in Krems an der Donau geboren. Die Tochter des Generaldirektors der Raiffeisenwarenzentrale wuchs schnell zu einer weltoffenen Frau heran. Als Dolmetschstudentin für Englisch und Spanisch in Innsbruck unternahm sie unter anderem mehrere Südamerika-Reisen.
Schon früh war Lunacek für die Rechte von Frauen aktiv. Sie war etwa beim Aufbau des Innsbrucker Frauenhauses involviert, war Redakteurin des Magazins "Südwind" und Obfrau des Vereines "Frauensolidarität". Weitere Stationen der passionierten Schwimmerin: Der Sportverein für Lesben und Freundinnen "Marantana", das Österreichische Lesben- und Schwulenforum und das Wiener "TheaterBrett", wo sie als Pantomime auftrat.
Rechtliche Gleichstellung
1994 delegierte der Österreichische Informationsdienst Lunacek zur UNO-Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung nach Kairo. 1995 koordinierte sie die Pressearbeit der nichtstaatlichen Organisationen (NGO) zur UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking. In denkbar schlechten Zeiten stieß Lunacek zu den Grünen. Sie kandidierte 1995 erstmals für den Nationalrat und erlebte eine vernichtende Niederlage der Partei. Ein Mandat blieb ihr vorerst verwehrt. Entschädigt wurde Lunacek ein Jahr später, als sie zur Grünen Bundesgeschäftsführerin avancierte. 1999 gelang schließlich der Sprung in den Nationalrat.
Im Hohen Haus angelangt, konnte Lunacek unbeirrt für die rechtliche Gleichstellung und soziale Akzeptanz homosexueller Menschen auftreten. Das tat sie stets mit Selbstbewusstsein, einengen ließ sie sich auf eine derartige Rolle allerdings nicht. Als außenpolitische Sprecherin holte sie sich auch - neben ihrer regen Reisetätigkeit und Sprachgewandtheit - das notwendige Rüstzeug für das Europaparlament.