Experten: "Selbst wenn wir frei von Fällen sind, sind wir nicht aus dem Schneider"
Von Johanna Hager
Die Infektionszahlen in Österreich sind weiter im niedrigen Bereich, die Schulen ab heute wieder geöffnet, die Gasthäuser offen. Was aber passiert, wenn eine zweite Welle kommt?
Gesundheitsminister Rudolf Anschober und der Beraterstab der Coronavirus-Taskforce geben Einblicke. "Wir sind bei Weitem noch nicht durch", so Anschober. Wiewohl die Zahlen erfreuliche sind: 16.179 positiv Getestete gibt es per 18. Mai 2020. Das entspricht einem Plus von 0,17 Prozent zum Vortag. Noch Mitte März, erinnert Anschober, lagen die Zuwachsraten von Tag zu Tag bei bis 36 Prozent und mehr. Derzeit gebe es 27 Neuinfektionen, 1.026 aktiv Erkrankte.
Österreich sei - das beweisen die Zahlen - wie die Schweiz, Deutschland, Tschechien und die Slowakei auf einem guten Weg.
Zwei-Wochen-Schritte
Der Gesundheitsminister verweist auf eine Studie des Max-Planck-Instituts Deutschland, die zum Schluss kommt, dass die frühen Maßnahmen und die Lockerungen in Zwei-Wochen-Schritten sinnvoll seien, "weil man dazwischen evaluieren kann".
Der 14-Tage-Zeitraum werde beibehalten werden, denn auch die österreichischen Zahlen zeigen, dass nach Ostern wie nach der Öffnung der Baumärkte die Zahl der Infektionen nicht gestiegen ist. "Die Schritte sind bisher erfolgreich. Doch wir starten keine Experimente. Gesundheit ist ein schlechter Ort für Experimente", sagt Anschober. Man arbeite an einer großen Evaluierung und Grundsatzfragen - wie beispielsweise, wann Opernhäuser im Herbst - unter welchen Voraussetzungen - öffnen können.
Expertenrat seit 28. Februar
Anschobers Expertenrat tagt seit 28. Februar. Es gibt eine Sitzung pro Woche. Bis dato habe es demnach 16 Sitzungen gegeben. Der Rat selbst besteht aus 18 Mitgliedern, die alle ihrer Tätigkeit ehrenamtlich nachgehen, betont der Gesundheitsminister.
Herwig Ostermann, Mitglied des Expertenrates und Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH, erklärt, dass "Konsens darüber besteht, dass die Lockerungen Schritt für Schritt erfolgen".
"Kein Einzeltanz, sondern Polonaise"
Nach dem "Hammer" ist der "Tanz eine Herausforderung. Es geht hier nicht um einen Einzeltanz, es ist vielmehr ein Gruppentanz, eine koordinierte Polonaise, wenn man so will. Maßnahmen sind nur wirksam, wenn es eine hohe Partizipation gibt", sagt Ostermann.
Darauf angesprochen, ob die Infizierten in einem Postverteiler-Zentrum eine gefährliche Entwicklung darstellen, sagt Ostermann: "Cluster deuten daraufhin, dass Contact-Tracing funktioniert. Gefährlicher ist, wenn es 5 Fälle gibt, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen."
Postverteilerzentrum: "Prekäre Arbeitssituation im Fokus"
Ist Wien das neue Ischgl, wird Anschober gefragt. "Es werde anders gearbeitet als im März. Und: Es sei zudem kein ausschließliches Wien-Problem, sondern es handle sich um prekäre Arbeitssitutionen in Wien und Niederösterreich, die nun genau beobachtet und untersucht würden.
"Das Virus ist nach wie vor existent", sagt dann die nächste Rednerin, Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission und ebenfalls Mitglied der Taskforce. "Ich kann auch nur für ein schrittweises Meistern eintreten", so Druml.
"Verstörende Daten"
Es gäbe verstörende Daten von alten wie jungen Menschen, etwa junge Menschen, die am Kawaski-Syndrom leiden. "Es muss jeder sehen, dass keiner einen Freibrief hat zu agieren, als gäbe es kein Morgen. Wir müssen daran denken, wie eine reibungslose Behandlung in den Krankenhäusern stattfinden kann." Druml meint damit die Besuchsmöglichkeiten für alle Patienten - nicht nur an Covid Erkrankte, sondern insbesondere auch Intensivpatienten und appelliert an "Eigenverantwortung mit Respekt und Fürsorge".
"Mär von der Herdenimmunität können wir uns abschminken"
Von einem "unglaublich fragilen Gleichgewicht" spricht Herwig Kollaritsch, Facharzt für Hygiene, Facharzt für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin sowie Vorsitzender des nationalen Poliokomitees.
"Was immer wir jetzt machen, zielt darauf ab, dass wir das Gleichgewicht halten. Solange wir nicht frei von Fällen sind, sind wir nicht aus dem Schneider. Und auch dann sind wir es nicht, weil Österreich keine Insel ist. Die Mär von der Herdenimmunität können wir uns abschminken. Selbst unter schlimmen Bedingungen gehe die Zahl nicht über 5 Prozent hinaus.
"Maske haben physikalischen und psychologischen Effekt"
Ob und wann es eine zweite Welle geben kann, das könne niemand für gewiss sagen. Herwig Kollaritsch kann der Forderung von Handelsobmann Peter Buchmüller, die Masken-Pflicht im Handel zu lockern, gar nichts abgewinnen. "Masken haben einen physikalischen und einen psychologischen Effekt. Wir sind noch immer in einer Pandemie, wir bemerken es nur nicht."
Protokolle: "Entscheidungsgrundlagen offenlegen"
Warum die Protokolle der Sitzungen nicht veröffentlicht wurden, wird Kollaritsch gefragt. Er habe nichts gegen das Publikmachen, habe dort "nichts Anstößiges gesagt", gibt er zu bedenken, dass vieles vor wenigen Wochen nunmehr keine Gültigkeit habe. "Wir bestimmen nicht, was die Politik macht. Es gibt keine Expertokratie. Ich halte viel davon, dass wir den Diskurs öffentlich führen. Es ist wichtig, dass die Entscheidungsgrundlagen offengelegt werden", sagt später auch Rotes Kreuz-Bundesrettungskommandant Gerry Foitik auf Nachfrage.
Kollaritsch streicht hervor, dass die Testquote in Österreich eine hervorragende sei. "0,5 Prozent sind positiv, damit sind wir im internationalen Spitzenfeld: nur 5 positive auf 1000 Getestete."
"Alle brauchen Untersuchung und Behandlung"
Den Erfolg dieser niedrigen Infektionen haben "die Menschen sich selbst zu verdanken", beginnt Susanne Rabady (Allgemeinmedizinerin, Leiterin d. Kompetenzzentrums Allgemein- und Familienmedizin an der Karl Landsteiner Privatuniversität) ihr Statement. "Alle kranken Menschen brauchen Untersuchung und Behandlung", die Unterscheidung in Covid-19 oder nicht sei nicht zielführend. "Zutritt zu regeln darf nicht bedeuten, den Zutritt zu behindern." Hausärzte müssen fortan, so Radaby, als Clearingstelle agieren, über die alles passieren muss.
Risikogruppen-Regel: "Richtig ist, was wichtig ist"
Gerry Foitik (Bundesrettungskommandant Österreichisches Rotes Kreuz) mahnt, "wir müssen dem Virus auf der Spur bleiben" und "ein sensitives System" etablieren. Contact-Tracing sei deshalb essentiell, dabei helfe u.a. auch die Stopp-Corona-App, Risikogruppen sollten sich nach dem Lockdown gemäß dem Motto "Richtig ist, was wichtig ist" verhalten.