Politik/Inland

Stalin und der "alte Verräter" Renner

Fürs Erste wussten die sowjetischen Offiziere im niederösterreichischen Köttlach nicht, was sie mit dem alten Herren anfangen sollten, der da bei ihnen vorstellig wurde. Es war der 3. April 1945, an allen Ecken der allmählich in sich zusammenbrechenden "Ostmark" wurde noch gekämpft, selbst Wien war noch großteils in der Hand der Wehrmacht. Doch der unerwartete Besucher bot sich an, "mit Rat und Tat bei der Herstellung des demokratischen Regimes zu helfen", immerhin sei er ehemaliger "Premierminister" und "letzter Präsident des österreichischen Parlaments".

"Renner vertrauen"

Es sollte nicht lange dauern, dann wurde aus dem unerwarteten Besucher ein hochwillkommener Gast. Inzwischen hatte man nämlich mit der sowjetischen Armeeführung und mit Moskau die Lage geklärt. KremlchefJosef Stalinpersönlich hatte klar gemacht, dass er genau diesen Karl Renner als Chef einer provisorischen österreichischen Regierung haben wollte. "Wie, der alte Verräter lebt noch immer?" soll Stalin nach Angaben von Zeitzeugen die Nachricht von Renners Auftauchen kommentiert haben: "Er ist genau der Mann, den wir brauchen."

Umgehend wurden die Pläne des Generalsekretärs in die Steiermark übermittelt: Diesem Renner sei "Vertrauen zu erweisen".

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"Stalin hatte vorrangig das Ziel, Berlin und Wien einzunehmen und möglichst große Teile von Österreich von der Roten Armee besetzen zu lassen", erläutert Historiker Stefan Karner, die Überlegungen des Kreml: "Dann wollte er eine Regierung installieren, die zwar freie Wahlen zulassen würde, aber den Sowjets – um es einmal vorsichtig auszudrücken – eindeutig gewogen sein sollte."

"Kein Kommunist"

Und Karl Renner gab dem Diktator ausreichend Grund, um gerade ihn genau dafür geeignet zu halten. Den wohl schlagendsten und authentischsten Beweis dafür liefert der Briefwechsel zwischen dem Österreicher und Stalin, der sich in den kommenden Wochen und Monaten des Jahres 1945 entwickeln sollte.

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Es ist Karner und seinem Team vom Grazer Institut für Kriegsfolgen-Forschung gelungen, die originalen Briefe und Telegramme, die verschlossen in Moskauer Archiven lagen, nach Österreich zu holen. Ab 10. April werden sie im Landesmuseum St.Pölten ausgestellt sein.

"Stalin wollte keinen Kommunisten an der politischen Spitze in Österreich", analysiert Karner Stalins nur auf den ersten Blick paradoxe Pläne. Denn obwohl diese Kommunisten in Moskau und quasi auf dem Schoß des Diktators saßen und sich diesem als die Garanten für ein linientreues Österreich anboten, war dem klar, dass man mit diesen Ideologen in Österreich keine Mehrheiten gewinnen konnte.

Und Renner? "Der hatte ja schon viele politische Verrenkungen gemacht", meint der Historiker, "jetzt kam eben die nächste."

Und diese politische Verrenkung des Mannes, der ein paar Jahre zuvor den Anschluss an Nazi-Deutschland befürwortet hatte, wird schon in seinem ersten handgeschriebenen Brief, Ende April 45, an Stalin deutlich.

In Moskau hatte man ja inzwischen ernsthafte Zweifel, ob dieser Sozialdemokrat auch tatsächlich verlässlich sei. Doch Renner erwies sich als gewiefter Taktiker und Formulierer.

Sozialismus als Zukunft

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"Sehr geehrter Genosse" beginnt das sehr persönlich gehaltene Schreiben, in dem Renner die Not in Österreich wortreich beklagt, ebenso wortreich aber Stalin und die Rote Armee bewundert. Das alles mündet in ein pathetisches Finale über "das grenzenlose Vertrauen der Arbeiterklasse in die Sowjetrepublik: Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung."

Dass Renner unter diesem Sozialismus etwas anderes verstand als Stalin, das sollte der Diktator erst in den kommenden Monaten realisieren. Bei den ersten Wahlen im befreiten Österreich verschwanden die Kommunisten in der politischen Bedeutungslosigkeit. Sieger wurde – zumindest für Moskau völlig unerwartet – die ÖVP. Die Idee eines Sozialismus nach strenger marxistischer Vorstellung war damit vom Tisch.

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Auch der Briefwechsel zwischen Wien und Moskau wurde rasch deutlich weniger persönlich und schließlich wollte Stalin von dem Österreicher gar nichts mehr wissen. "Die SPÖ galt in Moskau schließlich als abtrünnige Partei, und Leute wie Renner als Verräter", resümiert Karner die weitere Entwicklung der Beziehungen. Für Stalin sollte die Enttäuschung, die er mit Renner erlebt hatte, eine Lehre sein. So etwas wie in Österreich sollte nicht mehr passieren. Entsprechend konsequent ließ er Staaten wie die Tschechoslowakei, Ungarn oder die DDR auf einen streng moskautreuen Kurs steuern.

In Österreich sollte Stalin von da an aber nur noch der ÖVP vertrauen. Die sei zwar ideologisch der Klassenfeind, habe aber zumindest Handschlagqualitäten.

Den betagten Renner kümmerte der Ärger des Diktators nicht mehr allzu sehr, der Briefwechsel war ohnehin sein letzter politischer Coup. Ein Geniestreich? Für den Historiker wäre das etwas zu hoch angesetzt:"Renner hatte einfach diese perfekte Mischung aus politischer Eitelkeit und Verantwortungsbewusstsein – und er war in diesen Tagen der richtige Mann, zur richtigen Zeit am richtigen Ort."