"Ein Verbrechen an der Menschheit, das wir noch bitter bereuen werden"
Reinhard Steurer ist assoz. Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der politischen Dimension der Klimakrise im Allgemeinen bzw. mit der politischen Bedeutung von Ausreden und Schein-Klimaschutz in allen Bereichen der Gesellschaft im Speziellen.
Kim Stanley Robinson beschreibt am Beginn seines Buchs Das Ministerium für die Zukunft eine Hitzewelle in Indien, in dem sich die Temperaturen bis 50 Grad aufheizen. Menschen sterben massenhaft. Ist so eine Beschreibung Panikmache, oder eine Schilderung einer zukünftigen Situation, die einfach nötig ist, um wachzurütteln?
Prof Reinhard Steurer: Viele glauben, an einer Hitzewelle sterben nur Alte und Kranke. Das Buch macht deutlich, dass ab einer bestimmten Temperatur und hoher Luftfeuchtigkeit so gut wie jeder binnen weniger Stunden stirbt, weil der Körper sich nicht mehr durch Schwitzen kühlen kann. Bei unserem derzeitigen Kurs ist nicht die Frage, ob so ein Massensterben passieren wird, sondern wann und wo das erstmals sein wird. Darüber zu schreiben ist also keine Panikmache, sondern der Versuch, die brutalen Fakten der Klimakrise den Menschen näher zu bringen, damit wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen: weiterhin Öl und Gas zu verbrennen ist ein Verbrechen an der Menschheit, das wir noch bitter bereuen werden.
Rekordtemperaturen, schwere Unwetter, Waldbrände, Wassermangel. Können Sie versuchen, das für unsere Leser einzuordnen? Ist das schon extrem oder normal?
Normal war einmal. Jetzt sehen wir den Anfang einer Entwicklung hin zu immer neuen Extremen. „Das hat es noch nie gegeben“ wird sozusagen die neue Normalität, solange wir weiter CO2 in die Luft blasen. Was jetzt bei 1,2 Grad globaler Erhitzung passiert, ist also nur ein Vorgeschmack auf das, was uns bei 2 oder 3 Grad erwartet. 3 Grad mehr global, 5 bis 6 Grad mehr in Österreich, darauf bewegen wir uns derzeit zu, im Laufe dieses Jahrhunderts. Wenn wir diesen Kurs nicht korrigieren, werden wir uns nicht mehr fragen, wie es der Wirtschaft geht. Da wird es um den Fortbestand unserer Zivilisation gehen, wie wir sie kennen. Klimaschutz ist also längst kein grüner Umweltschutz mehr. Es geht um Zivilschutz, um „Zivilisationsschutz“. Leider haben das viele noch nicht verstanden.
Wissen die Menschen, was für Auswirkungen unser derzeitige Kurs auf ihre eigene Zukunft und vor allem auf jene ihrer Nachkommen haben wird?
Nein, die meisten können sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie katastrophal es werden wird, wenn wir den Kurs nicht doch noch rasch ändern. Viele glauben, es wird nur die anderen treffen, in Afrika oder Asien. Das ist Unsinn, aber so lebt es sich leichter. Am leichtesten lebt es sich, wenn man die Klimakrise insgesamt verleugnet, verharmlost oder verdrängt. So kann alles so bleiben wie es ist, bis nichts mehr so ist, wie es einmal war. Wir verbrennen eben nicht nur Öl und Gas, sondern auch unsere Zukunft, wohlgemerkt nicht nur die unserer Kinder und Enkelkinder. All jene, die das an sich heranlassen, haben keine Freude mehr mit großen Autos oder mit Fernreisen. Verständlicherweise wollen das viele nicht und halten die Klimakrise erfolgreich auf Distanz. Blöderweise lässt sich die Physik dadurch nicht beeindrucken und das Problem wird immer ernster.
Die Sorge bei der Klimaberichterstattung ist, dass es überzogenen Alarmismus geben könnte, andererseits scheint in der Realität die Prognosen weit zu überholen, die Aussagen der Wissenschaft könnten also eher zu konservativ, zu abwiegelnd gewesen zu sein. Stimmt diese Wahrnehmung?
Die meisten Prognosen aus der Wissenschaft stimmen recht gut. Wenn sie mal danebenliegen, dann stets so, dass das Tempo und die Intensität der Eskalation unterschätzt wurde. Das Problem ist aber nicht die Wissenschaft. Das Problem ist, dass die meisten Medien über die Klimakrise zu wenig, zu nebensächlich oder zu verharmlosend berichten. Ein Beispiel: Im April dieses Jahres hat das IPCC seinen 6. Bericht veröffentlicht und die UN sprach von einem Klimanotstand. Am nächsten Tag fanden sich die eindringlichen Warnungen auf so gut wie keiner Titelseite. In der „Los Angeles Times“ stand dort in einer Randnotiz: „Erde am Weg zur Unlebbarkeit. Bericht Seite A3“. Alarmismus ist das keiner, im Gegenteil: Der journalistische Umgang mit der Klimakrise ist mit ein Grund dafür, warum wir sie gravierend unterschätzen.
Das kleine Österreich könne keinen spürbaren Beitrag zur weltweiten Gesamtsituation leisten, weil es kaum ins Gewicht fällt. Wie falsch ist eine derartige Aussage?
Dabei handelt es sich um eine billige Ausrede, um nichts tun zu müssen. Sie ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Moralisch ist sie so falsch, wie wenn ich sagen würde: es nützt doch nichts, wenn ich nicht mehr rassistisch bin, solange die anderen es sind. Wenn ich Rassismus falsch finde, dann will ich nichts mehr damit zu tun haben, egal was die anderen tun. Politisch ist die Ausrede falsch, weil Österreich Teil des größten Wirtschaftsraums der Welt ist und die EU ihre Ziele nur erreichen kann, wenn alle Mitgliedsstaaten liefern. Was die EU macht, ist global relevant. Ökonomisch ist die Ausrede falsch, weil eine klimafreundliche Wirtschaft schon heute ein großer Wettbewerbsvorteil ist. Leider haben das trotz Gas-Engpass die Wirtschaftskammer und die ÖVP immer noch nicht verstanden. Hätten sie es verstanden, gäbe es längst ein starkes Klimaschutzgesetz.
Wie beurteilen Sie die Klimapolitik Österreichs im internationalen Vergleich?
Österreich ist eines von vier Ländern in der EU, das seine Treibhausgas-Emissionen seit 1990 nicht reduzieren konnte, und das trotz 30 Jahren Klimapolitik. Wie kann das sein? Wir haben Jahrzehnte lang so getan, als könnten wir das Problem mit kleinen freiwilligen Maßnahmen wie einer Solarförderung lösen. Trotz wiederholt verfehlter Ziele, wird diese Politik von WählerInnen bis heute belohnt. Warum? Weil es uns als Gesellschaft nie primär darum ging, Emissionen zu vermeiden, sondern so zu tun, als ob Klimaschutz wichtig wäre, ob bei politischen Wahlen oder beim Einkauf angeblich klimafreundlicher Produkte. So konnten wir unseren fossilen Lebensstil bis vor kurzem möglichst billig aufrechterhalten, als gäbe es keine Klimakrise. Ich nenne das Scheinklimaschutz. Wir schützen damit nicht unsere Zivilisation vor chaotischen Zuständen sondern unser Wohlbefinden vor einem schlechten Gewissen.
So schwer wie Österreich tun sich fast alle Industriestaaten in Sachen Klimaschutz. Liegt das am allgemein fehlenden Verständnis, was Klimakrise eigentlich bedeutet?
Es gibt viele Länder, die klimapolitisch viel mehr tun als wir, zum Beispiel Schweden oder Dänemark. Richtig ist aber, dass die Klimakrise nirgends als existenzielle Krise angemessen behandelt wird. Wäre das so, gäbe es vieles längst nicht mehr, wie zum Beispiel neue Gasheizungen, große SUVs mit Verbrennungsmotor, Kurzstreckenflüge, Pläne für neue Autobahnen. Wir haben über Jahrzehnte eine systemische Sucht nach Fossilenergie aufgebaut und jetzt geht es uns so, wie vielen Alkoholikern: wir reden das Problem klein und finden Ausreden für das was wir tun. Wie bei Alkoholikern endet das nur dann gut, wenn man sich rechtzeitig der unangenehmen Realität stellt.
Was können Regierungen angesichts dieser schwierigen Situation tun?
Möglichst ehrlich und transparent kommunizieren, und zwar über das Problem und nötige Lösungen, auch wenn manche davon umstritten sind. Im Moment tun die meisten Regierungen so, als könnten sie das 1,5-Grad Limit einzig mit technischen Innovationen wie E-Autos einhalten. Dieses Ziel ist nicht mehr haltbar, schon gar nicht ohne Konsum- bzw. Verhaltensänderungen, die weit über Technik hinausgehen müssten. Wer traut sich zum Beispiel zu sagen, dass der Fleischkonsum viel zu hoch ist? PolitikerInnen sagen lieber, dass sie am 1,5-Grad-Ziel festhalten, aber dass diese oder jene Maßnahme doch nicht viel bringe. Siehe Tempolimit auf Autobahnen. So wird es früher oder später ein böses Erwachen geben und wir werden Schuldige dafür suchen. So wie bei der persönlichen Betroffenheit durch die Klimakrise werden auch das immer „die Anderen“ sein.
Wenn Österreich morgen keine Treibhausgase mehr ausstößt, ändert das nichts am Klimawandel, oder?
Womit wir wieder bei den Ausreden fürs Nichtstun wären. Die Situation ist längst so prekär, dass jede Tonne CO2 zählt. Was kleine Länder wie Österreich tun, ist schon deshalb relevant, weil 168 von 186 Staaten jeweils weniger als ein Prozent der weltweiten Emissionen verursachen. Alle irrelevant? Nein, weil sie zusammen etwa ein Viertel der weltweiten Emissionen ausmachen, also rund 10% mehr als die USA. Würden diese kleinen Verschmutzer nichts tun, würden auch die Großen nichts tun. Diesen Teufelskreis hatten wir Jahrzehnte lang und wir sehen mittlerweile, wo er hinführt. Hinzu kommt die Vorbildwirkung reicher Staaten. Ginge es den Menschen in einem klimaneutralen Land nach wie vor gut, ja wahrscheinlich sogar besser als früher, dann würde das global Schule machen.
Die wichtigste politische Messgröße unserer Zeit ist Wirtschaftswachstum. Umwelt-Indikatoren finden kaum Berücksichtigung. Ist das ein Problem des Kapitalismus, einer eingefahrenen Denkweise, die sich rasch ändern muss?
In der Corona-Krise war die Zahl der Neuinfektionen lange Zeit wichtiger als das Wirtschaftswachstum, und zwar völlig zurecht, weil durch „koste es was es wolle“ viele Todesopfer vermieden wurden. Die Klimakrise ist langfristig gesehen noch viel tödlicher, aber „koste es was es wolle habe ich in dem Zusammenhang noch nicht gehört. Zudem kennt kaum jemand die wichtigste Klima-Kennzahl: die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Derzeit stehen wir ungefähr bei 420 ppm, also „parts per million“, und nur wenige können damit etwas anfangen. Das ist ein Problem, das weit über die Dominanz der Wirtschaft in unseren Gesellschaften hinausgeht. Es hat damit zu tun, dass es viele, auch JournalistInnen, gar nicht so genau wissen wollen – aus den bereits genannten Gründen. Würden wir auf die Klimakrise als existenzielle Krise reagieren, dann würde auch der Markt einige Regeln mehr bekommen. Das würde uns einer Lösung deutlich näherbringen. Tun wir nicht, will eine Mehrheit scheinbar nicht. Die Abrechnung dafür kommt erst, und sie wird hoch ausfallen.
In den USA hat der Senat dem größten Klimapaket in der US-Geschichte zugestimmt. Wie wirkungsvoll sind diese Maßnahmen?
Es ist global wichtig, dass die verlogene Trump-Präsidentschaft abgewählt wurde und die USA zurück auf dem Weg der Vernunft ist. Studien gehen davon aus, dass mit dem Klimapaket die Emissionen bis 2030 um 40% reduziert werden können. Wie fast immer und überall in der Klimapolitik gilt: das ist gut, aber noch nicht gut genug. Die Emissionen müssten bis 2030 mehr als halbiert werden. Warum das richtige Tempo genauso wichtig ist wie die Richtung, veranschaulicht ein Vergleich ganz gut. Stellen Sie sich vor, ihr Haus brennt und die Feuerwehr sagt ihnen am Telefon: „unsere Richtung stimmt, aber wir kommen leider nur langsam voran. Sie können ja schon einmal mit dem Gartenschlauch zu löschen beginnen“. Wäre das gut oder eher zum verzweifeln? In Österreich stimmt das Tempo übrigens ebenso wenig wie in den USA – und unser gemeinsames Haus brennt lichterloh.
Wenn die ganze Welt morgen aufhören würde, Treibhausgase auszustoßen, ginge die Erderhitzung dann noch Jahrzehnte weiter oder wäre das Problem gelöst?
Ohne menschliche Emissionen würde die CO2-Konzentration in der Atmosphäre wieder runtergehen, weil Senken wie Meere oder Wälder das Treibhausgas langsam wieder aus der Luft holen würden. Das würde die bereits vorprogrammierte aber zeitverzögerte Erhitzung in etwa ausgleichen und das Klima würde sich stabilisieren. Für eine halbwegs sichere Zukunft müsste genau das passieren, das wird es aber nicht spielen.
Was wird die Zukunft anstelle dessen bringen?
Könnten wir die CO2-Konzentration auf dem heutigen Niveau in etwa konstant halten indem wir Emissionen rasch halbieren, dann würde uns das von 1,2 auf mindestens 1,7 Grad Erhitzung bringen. Natürlich werden Hitzewellen, Dürren, Waldbrände, Unwetter und Überschwemmungen bei 1,7 Grad noch viel häufiger und schlimmer sein als heute, aber das wäre noch harmlos im Vergleich zu dem, was im Moment am wahrscheinlichsten ist. Wir werden CO2-Konzentration und Temperatur noch viele Jahre hochschrauben und es wird lange dauern, wieder auf das heutige Niveau runterzukommen, auch weil Verstärkungseffekte wie Waldbrände das zusätzlich erschweren. Das ist gemeint, wenn von Klimanotstand oder Klimakatastrophe die Rede ist. Da die CO2-Emissionen global nach wie vor steigen statt sinken, sind wir leider auf dem schnellsten Weg dorthin. Wenn wir das nicht rasch korrigieren, könnten wir die Kontrolle über das Problem verlieren, und zwar unumkehrbar. Deshalb ist es so wichtig, wirkungslosen Scheinklimaschutz jetzt zu erkennen und auf allen Ebenen eine Klimapolitik zu machen, die Emissionen rasch senkt statt nur so zu tun als ob.