Politik/Inland

Thomas Wieser: "Da gibt es eine Art Amtsanmaßung"

Sein Lebensweg war so unberechenbar wie eine lange Gipfelnacht in Brüssel. Er startete seine Karriere in einer Bank, „aber das war mir zu langweilig“, sagt Thomas Wieser, der als rechte Hand des Euro-Gruppen-Chefs zuletzt fast ein Jahrzehnt mit Bankenkrisen und Euro-Rettungsplänen zu tun hatte. 1985 verschlug es ihn wegen eines UNO-Jobs seiner Frau nach Genf ins EFTA-Sekretariat (die EFTA war eine Art Vorhof der EU).

"Dann hat das Finanzministerium jemanden gesucht, der weiß, wo Brüssel liegt und der englischen Sprache mächtig ist." Zurück in Wien startet Wieser als engster Mitarbeiter Ferdinand Lacinas 1989 die Vorbereitungsgespräche für die EU-Verhandlungen. "Irgendwie begleitet mich das Thema bis heute", resümiert der 65-jährige Beamte, der derzeit an der Agenda für die nächste EU-Kommission arbeitet.

KURIER: Was war ihre erste Begegnung mit "Europa"?

Thomas Wieser: Ich bin teilweise in Tirol aufgewachsen. Meine erste Begegnung mit Europa war daher der Brenner und Kiefersfelden – also an der Grenze warten. Meine erste wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung war aber, als ich 1975 meinen in England lebenden Großvater gefragt habe, warum es diese obsessiven Diskussionen über die EU in England gäbe, das sei doch ohnehin klar und gut. Mein Großvater, der ein EU-Anhänger war, hat eine halbe Minute nachgedacht und dann gesagt: Ich glaube, die meisten Leute mögen keine Ausländer.

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Warum gibt es trotz des Zwei-Drittel-Ja 1994 keine nachhaltige Pro-EU-Stimmung?

Rund um die Beitrittsabstimmung ging es nicht ums Jammern, sondern um eine Entscheidung. Es ging nicht darum, jemand anderem in die Fresse zu hauen, sondern es ging um wirklich etwas. Die spannendste Diskussion über die Zukunft Europas findet jetzt in England statt. Wenn es um nix geht, gibt es offenbar diese Diskussionen und diese nationale Einigkeit nicht mehr.

Warum wird die EU als Zwangsehe empfunden?

Zum einen gibt es da eine Art Amtsanmaßung des Europäischen Parlaments. Das sich deshalb auch zu Themen äußert, für die es gar keine Zuständigkeit hat. Etwa zur Fiskalpolitik in Italien. Zum anderen ist es zu einer Entzahnung gekommen, die ungesund ist: Die Abgeordneten der nationalen Parlamente verweisen bei EU-Fragen auf Brüssel und Straßburg.

Europäische Themen werden nicht in den nationalen Parlamenten, sondern nur dort diskutiert. Aber je engagierter man diskutiert, was man verliert, wenn es die EU nicht mehr gibt, desto mehr gewinnt man die Leute dafür.

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Wie kann man die Bürger wieder stolz auf ihre EU machen?

Als Österreich der EU beigetreten ist, hatten wir noch keine Ahnung, welche große Rolle China einst spielen wird, und dass es jemals jemanden wie Donald Trump in den USA geben wird. Wir müssen noch klarer und lebendiger vermitteln: Je ungeeinter Europa ist, desto mehr wird jeder einzelne Staat zum Spielball. Die Engländer werden sich noch wundern. Auch Deutschland ist zu klein, um auf globaler Ebene mehr als eine Fußnote zu sein. Wenn man kein Mitspieler ist, da wird einem halt mitgespielt.

Sie waren in Brüssel als "Mr. Euro" bekannt – ein Horrorjob?

Ich habe mich nie so genannt. Ich habe immer gesagt, ich bin der Garagen-Mechaniker. Ich sorge dafür, dass, wenn die Finanzminister ins Auto einsteigen, die Reifen aufgeblasen, alles geschmiert und Benzin im Tank ist. Die Politiker kommen in der Regel einmal im Monat nach Brüssel. Der Job der ständigen Euroländer-Repräsentanten war es, die jeweils fünfzig offenen Fragen auf die vier wichtigsten einzudampfen. Über die beugen sich dann die Finanzminister. Zwanzig Leute arbeiten da rund ums Jahr. Ich war der Hausmeister dieser Truppe.

Braucht die EU einen Finanzminister?

Es wäre vernünftig, einen hauptberuflichen Vorsitzenden der Eurogruppe zu haben. Den Finanzminister zu nennen, wäre ein Etikettenschwindel. Denn das würde ein gemeinsames europäisches Budget voraussetzen. Was es aber braucht, ist einen Kommunikator, der in die Mitgliedsländer fährt und erklärt, warum es vernünftig ist, eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik und eine bestimmte Preispolitik zu haben.

In Österreich ist das aufgrund der Tradition der Sozialpartnerschaft etwas Selbstverständliches. In Italien gab es so etwas nie. Da hat jeder Lohnpolitik gemacht, wie er will. Das hat dann zu der Spirale aus hoher Inflation und Abwertung der Lira geführt. So wie in Italien gibt es in einer Reihe von Ländern keine Institution, die sich um das makroökonomische Wohl kümmert.

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Predigen allein hilft nicht, wenn es um Macht geht, oder?

Manchmal bleibt nicht mehr an Möglichkeiten, als weiter zu predigen. Alles andere setzt voraus, dass ein EU-Finanzminister festlegt, wie hoch das Budget-Defizit in den einzelnen Staaten sein darf. Dass das passiert, halte ich für illusorisch. Denn das setzt eine Totaländerung der Verfassung vieler Länder voraus. Daran wird sich aber zu meinen Lebzeiten und zu Lebzeiten meines Sohnes, der jetzt 24 ist, nichts rasend ändern.

Wird es 2030 mehr oder weniger EU-Mitglieder geben?

Ich glaube, es wird mehr geben, aber entscheidender ist die Lösung einer anderen Frage. Dass alle an allem teilnehmen sollen, halte ich für eine Fehlentwicklung, die sich aus der Geschichte der EU ergibt, wo anfangs nur wenige dabei waren. Das war bei noch 12 oder 15 EU-Staaten möglich.

Je mehr Mitglieder man hat, und je gestreuter die Interessen sind, desto heterogener wird es. Denn was sind etwa die überlappenden Interessen zwischen Albanien und Finnland? Wie soll man dann zu gemeinsamen Ergebnissen kommen, wenn man keine gemeinsamen Interessen hat?

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Ein Plädoyer für noch mehr Europa, aber mit verschiedenen Geschwindigkeiten?

Ich würde es nicht einmal so nennen. Denn das setzt voraus, dass alle einmal am gemeinsamen Ziel ankommen. Aber es müssen ja nicht alle je am Euro teilnehmen, bei einigen Ländern wäre das gar nicht wünschenswert. Ich bin für noch mehr Heterogenität in einem gemeinsamen Europa.

Österreicher wie Sie sind in Brüssel die Ausnahme. Warum?

Was in anderen Ländern sehr viel besser funktioniert, sind die Netzwerke. Es treffen sich beispielsweise alle deutschen leitenden Mitarbeiter beim Botschafter und bereden, was sie gerade machen. Es gibt einen regen Austausch mit den jeweiligen Hauptstädten. Auch die Holländer pflegen den Austausch sehr.

Der Eindruck, dass es am Beginn der Mitgliedschaft mehr Österreicher in den EU-Institutionen gab, rührt daher, dass man die Österreicher, die in hohe Positionen nach Brüssel kamen, gekannt hat. Die, die jetzt in verantwortliche Positionen kommen, hat – als sie vor 10, 15 Jahren nach Brüssel gekommen sind – keiner gekannt. Umso mehr müsste man den Kontakt mit ihnen herstellen. Aber da sind wir nicht wahnsinnig clever.