Brigitte Ederer: "Wo ist denn der Ederer-Tausender?"
Von Josef Votzi
Der Kuss, den ihr Außenminister Alois Mock im März 1994 auf die Wange drückte, als er den Abschluss des EU-Beitrittsvertrags verkündete, wurde zum Markenzeichen für die gute Stimmung zwischen Rot und Schwarz. Im KURIER-Interview zieht die Ex-EU-Staatssekretärin und Ex-SPÖ-Spitzenfunktionärin Brigitte Ederer 25 Jahre danach Bilanz.
KURIER: In der SPÖ gab es große Vorbehalte gegen die EU, auch bei Ihnen?
Brigitte Ederer: Ich war als Mitglied der sozialistischen Jugendorganisationen massiv dagegen. Für uns war die EU damals ein Zusammenschluss kapitalistischer Strukturen und eine Schwächung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Da muss es sogar noch einen Artikel in einer Broschüre geben. Gott sei Dank hat sich später niemand mehr daran erinnert und den ausgegraben. Kurz vor dem Beitrittsansuchen habe ich begonnen umzudenken. Auch aufgrund eines geschickten Schachzugs des SPÖ-Klubobmanns Heinz Fischer. Er hat mich als junge Abgeordnete als Beobachterin in die sozialdemokratische Fraktion des EU-Parlaments geschickt. Da hat mich das gemeinsame Ringen um europäische Lösungen sehr beeindruckt.
Waren die EU-Verhandlungen 1994 wirklich mehrmals am Kippen?
Es war zwei-, dreimal am Kippen. Auch weil die Franzosen unausgedrückt die Meinung gehabt haben, sie brauchen nicht noch einen deutschen Staat in der EU. Die Deutschen haben sich zudem auch noch ein wenig so aufgeführt: So, jetzt kommt der kleine Bruder. Da hat Franz Vranitzky als Kanzler in Telefonaten mit François Mitterrand und Jacques Delors die Front von hinten aufgeweicht. Es war Ferdinand Lacina zu verdanken, dass das Verhandlungsteam sehr zusammengehalten hat. Eine meiner Rolle war, aufzupassen, dass innerhalb der sehr großen Delegation keiner ausschert. Die Einbindung der Bundesländer und Sozialpartner vor Ort hat sich im Nachhinein als goldrichtig herausgestellt. Die konnten dann hinterher nicht ausbüchsen und sagen, dass sie bei den kritischen Entscheidungen wie Landwirtschaft, Transit und Zweitwohnsitze nicht dabei waren.
Wer waren die Helden in diesen dramatischen Tagen in Brüssel?
Die integrativste Rolle hat sicher Ferdinand Lacina gespielt. Was wirklich alles hinter den Kulissen gelaufen ist, nehme ich ins Grab mit. Ich möchte das öffentliche Bild nicht konterkarieren. Es sind wohl auch die Verhandlungen über den Staatsvertrag nicht genauso gelaufen, wie sie in den Geschichtsbüchern stehen. Was sicher stimmt, ist, dass wir zu einer verschworenen Gemeinschaft wurden. Dabei soll es auch bleiben.
Wie sehr haben Sie vor der Abstimmung im Juni 1994 noch gezittert?
Bis drei Wochen vor der EU-Abstimmung hatten wir in den Umfragen ein Nein zum Beitritt. Vierzehn Tage davor hat die Stimmung dann ins Ja gedreht. Zum einen, weil Jörg Haider wie immer überdreht hat, und die Leute gemerkt haben, das ist denen Ernst: Die streiten nicht, der Mock küsst mich öffentlich. Die Österreicher haben gefunden, irgendwie müssen wir da dazugehören.
Warum ist es nie gelungen, diese Pro-EU-Stimmung lebendig zu halten?
Zum einen, weil wir danach wieder zum Streiten angefangen haben. Beginnend damit, wer unterschreibt den Vertrag, und dass kurz nach dem Beitritt Neuwahlen ausgerufen wurden. Danach hat jede Regierung entweder das Bild gepflegt, wir haben uns mit Mühe in Brüssel durchgesetzt, oder das müssen wir nur machen, weil es uns die EU aufgezwungen hat. Es ist nie gelungen, Österreich in den Hirnen und Herzen als Teil dieser Europäischen Union zu verankern. Europapolitik muss als Innenpolitik vermittelt werden statt der Rhetorik von „denen in Brüssel“. Man müsste permanent erklären, was die EU alles kann und bewirkt. Das größte Überzeugungsargument ist groteskerweise derzeit der Brexit. Da sagen die Leute: Die EU ist zwar keine ideale Struktur, aber auszutreten ist keine gute Idee.
Warum ist das gute Koalitionsklima nach dem Beitritt total gekippt?
Mir hat Alois Mock 1993 einmal gesagt: Dass die Sozialdemokratie solange Nummer 1 ist, sei ein Irrtum der Geschichte. Mock war kein Antidemokrat, aber er war von der Haltung geprägt, die erste Reihe in der Republik gehört eigentlich der ÖVP. Nach dem EU-Beitritt, der ihnen sehr wichtig war, und wofür man die Sozialdemokratie und Gewerkschaften gebraucht hat, hat sich diese Haltung wieder stark durchgesetzt.
Der rote Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen?
So kaltschnäuzig war es nicht. Aber die Stimmung war: Die Partie könnte jetzt auch einmal wieder in die zweite Reihe rücken. Wolfgang Schüssel, der inzwischen Erhard Busek abgelöst hatte, hat zudem gefunden, er mache das besser als Franz Vranitzky.
Wie würden Sie für die EU mobilisieren?
Steuergerechtigkeit im Großen wäre ein wichtiges und bewegendes Thema. Wer soll denn sonst die Giganten à la Google und Facebook in die Schranken weisen? Wer sollte in einem weltweiten möglichen Handelskrieg die Interessen Europas schützen? Ein einzelner Staat kann das nicht. Die Leute müssen insgesamt das Gefühl haben, da denkt wer über ihre täglichen Sorgen nach. Das müsste man dann europaweit anhand von ein paar wenigen Punkten durchziehen.
Wo sehen Sie die EU 2030?
Kurzfristig bin ich wegen des Brexit pessimistisch, mittel- und langfristig optimistisch.
1994 hieß es, eine Familie würde rund 1000 Schilling (= 72,67 Euro) vom EU-Beitritt profitieren. Sie sind mit diesem „Ederer-Tausender“ bis heute unglücklich. Warum?
Der Tausender gehört mir, auch wenn ich das nie so gesagt habe. Die Schätzung stammt von einer Expertin der Arbeiterkammer, die sie Ende 1994 am Rande einer Pressekonferenz mit mir abgegeben hat. Also lange nach der EU-Volksabstimmung. Bei den Leuten ist der Ederer-Tausender aber zum Synonym dafür geworden, die haben uns angelogen. Viele haben dennoch nur die eine oder andere Preissteigerung gesehen. Noch heute kommen Leute fordernd auf mich und sagen: Wo ist denn der Tausender?
Wie viel blieb vom Ederer-Tausender?
Ökonomen haben in mehreren Studien errechnet, dass die Preisminderungen mit 1200 Schilling für eine vierköpfige Familie sogar noch etwas mehr ausgemacht haben. Aber nach der Wahl 1995 sind zum Beispiel Gebühren erhöht worden, und viele Leute glauben deshalb bis heute, dass der Tausender ein Schmäh war. Auch wenn etwa Nahrungsmittel und Elektrogeräte wirklich deutlich billiger geworden sind.