"Wir haben in der Türkei keine Demokratie mehr"
Von Walter Friedl
Die jüngste Offensive der türkischen Regierung unter dem konservativ-islamischen Premier Tayyip Erdogan ist ein neuer massiver Schlag gegen die Rechtstaatlichkeit im Land: Wie nationale Medien berichten, wurden jetzt fast 100 Richter und Staatsanwälte sowie weitere 500 Polizisten zwangsversetzt. Sie alle waren an Ermittlungen und Verfahren beteiligt in dem riesigen Korruptionsskandal, in dem mindestens vier Ex-Minister und deren Söhne involviert sein sollen. Angeblich geht es um Bestechungsgelder in der Höhe von rund 45 Millionen Euro.
„Die Herrschenden wollen die Affäre mit allen Mitteln vertuschen und entfernen missliebige und gefährliche Leute im Justiz- und Polizeiapparat“, sagt dazu der Parlamentsabgeordnete Haluk Özdalga im KURIER-Interview. Bisher sind schon an die 3000 Beamte dieser „Säuberungswelle“ zum Opfer gefallen. Auch der Mandatar, der bis vor Kurzem für die regierende AK-Partei in der Legislative in Ankara saß, geriet ins Visier von Erdogans Scharfmachern.
„Inakzeptabel“
Erdogan begründet die Versetzungen damit, dass die Beamten von außen gesteuert seien und einen „Staat im Staat“ aufbauen wollten. Konkret meint er damit seinen Widersacher Fethullah Gülen. Der muslimische Prediger orchestriere von den USA aus den „Putschversuch“, hinter dem letztlich Washington stünde. „Das ist lächerlich“, meint Özdalga, „wenn dem so wäre, allerdings liegt bisher kein einziger Beweis dafür vor, müsste man diese Beamten feuern und nicht versetzen.“ Der Premier schiebe den Konflikt mit Gülen jetzt in den Vordergrund, in Wahrheit gehe es ihm aber darum, „die Justiz unter die vollständige Kontrolle der Regierung zu bringen“. So liege im Parlament ein AKP-Gesetzesvorschlag vor, wonach der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (der für die Berufung von Richtern und Staatsanwälten zuständig ist) künftig direkt dem Justizminister unterstellt sein soll.
Parallel dazu übten AKP-Granden offen Druck auf Juristen im Staatsdienst aus. „Erst am Dienstag wurde ein Protokoll öffentlich, wonach der Unterstaatssekretär im Justizressort dem Chef-Ermittler in Izmir telefonisch gedroht hat, die Erhebungen einzustellen oder die Konsequenzen zu tragen“, betont Haluk Özdalga. Hintergrund: Ein Verwandter des früheren Transportministers und AKP-Gründungsmitgliedes Binali Yildirim, der jetzt für das Bürgermeisteramt in der Stadt kandidiert, soll in die Affäre verwickelt sein.
Der Wandel Erdogans
Özdalga sieht nicht nur Negatives an dem AKP-Chef, er habe „viele gute Dinge für die Türkei erwirkt“, etwa im Wirtschaftssektor und auch bei der Eindämmung der Macht der Militärs. „Aber seit 2011 hat er einen grundlegenden Wandel durchlaufen. Er ist ein anderer Mensch. Ich glaube das hat damit zu tun, dass er sich seiner Position sehr sicher war, nachdem er die Generäle in die Kasernen verbannt hatte.“
„Verunsicherung“
Und jetzt, da sich der Premier mit der größten Herausforderung seiner bisherigen Amtszeit konfrontiert sieht? Özdalga wagt keine Prognose. Vor der Krise sei es der Plan Erdogans gewesen, mit einem guten Ergebnis bei den kommenden Kommunalwahlen Ende März (Ziel: 50 Prozent) im Sommer den Präsidentenposten anzustreben, um mit Vasallen an der AK-Partei- und Regierungsspitze weiter die Fäden zu ziehen. „Das kann er jetzt aber vergessen, seine AKP wird unter die 40-Prozent-Marke fallen“, glaubt der Abgeordnete, der vorgezogene Parlamentswahlen noch heuer nicht ausschließt.
„Wir befinden uns in der Türkei in einer Periode tiefer Verunsicherung“, so Özdalga, „die wird sich noch über Monate erstrecken, und niemand kennt den Ausgang.“