Song Contest: Die Euro-Vision hautnah am Nahostkonflikt
Von Norbert Jessen
In Tel Aviv begannen am Sonntag die ersten Delegationen mit den Proben für den Eurovision Song Contest. Ungestört.
Doch keine 30 Kilometer südlich der Konzert-Halle schlugen in den vergangenen 24 Stunden fast pausenlos über 450 aus dem Gazastreifen abgefeuerte Raketen in dicht bewohnte Ortschaften ein. Im Gegenschlag bombardiert Israel Einrichtungen der im Gaza-Streifen herrschenden Hamas und anderer Terror-Organisationen.
Hier die Vision Europas – und auf Sichtweite der Nahostkonflikt. Durch israelische Gegenschläge wurden am Freitag vier Palästinenser getötet, mindestens zwei davon Hamas-Kämpfer. Laut Angaben aus Gaza wurden auch eine schwangere Frau und ihr Kind durch israelisches Geschosse getötet. Israels Armeesprecher dementierte entschieden: „Frau und Kinder wurden durch Sprengsätze getötet, die Hamas in einem Wohnhaus lagerte.“
Zum ersten Mal seit Jahren griff Israels Armee am Sonntag wieder gezielt einen hohen Funktionär der Hamas an. Chamed Chudri wurde zusammen mit drei weiteren Personen in seinem Auto von einer Lenkrakete getroffen. Er hatte den Transport der Bargelder aus dem Iran für die Hamas organisiert. Israels Geheimdienst wusste auf den Punkt genau, wo sich Chudri wann aufhielt.
Das leer stehende Haus eines anderen Hamas-Führers wurde am Mittag zerstört. Die Reaktion der Hamas: „Diese Angriffe weiten die Kämpfe aus. Ab jetzt gibt es keine Grenzen.“
Israelische Großstädte wie Aschkalon und Beer Schewa werden bereits seit Samstag mit Raketen beschossen. Vor Chudris Tod. Drei Israelis wurden bis Sonntagnachmittag getötet, über 100 wurden verletzt. Opferzahlen, die Israel nur in Kriegszeiten kennt. Der Alltag im Süden Israels, auch einiger südlicher Vorstädte Tel Avivs steht so gut wie still. Keine Massenveranstaltungen, geschlossene Schulen und ständige Alarmbereitschaft. Heulen die Sirenen, hat jeder 30 Sekunden Zeit, einen Schutzraum zu erreichen. Nicht jeder hat einen Schutzraum.
Hamas droht nach Chudris Tod mit Krieg. Doch für Hunderttausende hatte der Krieg bereits Freitagnacht begonnen. Israels Abwehrsystem schafft es, fast 80 Prozent der Raketen aus dem Gazasreifen noch im Anflug auszuschalten. Ein anderer Teil schlägt in unbewohnte Gebiete ein. Aber der Rest trifft. Immer härter und genauer mit wachsender Reichweite.
Premier Benjamin Netanjahu rief am Sonntag das Krisenkabinett ein. Eine Formalität. Netanjahu hat noch vor Beginn mit der Armeeführung allein beschlossen, wie Israels Antwort aussehen soll. Die Minister stimmen nur zu und nicht ab.
Ex-Armeechef Mosche Yaalon: „Wir haben immer mehr einen Einzelherrscher. Wie Erdogan.“ Wodurch aber bislang die Gewalt gebremst wurde, die seit einem Jahr durch Raketen und Protesten am Gaza-Sperrzaun fast monatlich ausbricht.
Netanjahu hatte kein Interesse, in den letzten Monaten seinen Wahlkampf mit einem Einmarsch in den Gazastreifen zu belasten. Auch am Sonntag drohte er volltönend: „Ich habe die Armee angewiesen, mit massiven Schlägen zu reagieren.“
Zu wenig für die Opposition. Aber auch sie hat keine überzeugende Lösung parat.
So ist Israels Armee weiterhin darauf bedacht, ihre Angriffe nicht direkt gegen zivile Bewohner Gazas zu richten. Um so den derzeit bereits stark gestörten zivilen Alltag in Israel nicht noch mehr zu gefährden.
In Kairo vermittelt wieder der ägyptische Geheimdienst, um die Eskalation zu stoppen. Wobei ausdrücklich die Wortwahl des UN-Sonderbotschafters Nikolai Mladenovs dementiert wird, der von „Verhandlungen“ sprach. Den Ägyptern geht es derzeit um die Einhaltung des Übereinkommens, das im März ausgehandelt wurde. Die Hamas beschuldigt den Dschihad, die erste Rakete abgefeuert zu haben. Dschihad-Chef Siad Nahale erklärt, seine bewaffneten Milizen hätten ohne Befehl geschossen. Was in Kairo auf Unglauben fällt: Haben Hamas und der Dschihad doch einen gemeinsamen Kriegsstab.
In Tel Aviv gehen die Proben weiter. Die Sängerin aus Montenegro weiß auf Anfrage nichts von der Lage im nahen Süden. Georgiens Oto Nemsadze ist konfliktgewohnter: „Wir sind Georgier. Wir haben vor nichts Angst.“ Auch Israels Regierung will die Eurovision ungestört ausstrahlen. „Das ist durchaus wichtig für uns“, so der amtierende Außenminister Israel Katz, „aber unsere Sicherheit geht vor.“