Riesenskandal in Großbritannien: Chats belasten Ex-Gesundheitsminister schwer
Von Johannes Arends
Es sind gravierende Vorwürfe, die der britische Telegraph in einem umfassenden Investigativ-Bericht unter dem Titel "The Lockdown Files" anhand von mehr als 100.000 geleakten WhatsApp-Nachrichten gegen den ehemaligen Gesundheitsminister Großbritanniens, Matt Hancock, erhebt.
Der heute 44-Jährige soll zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 mehrfach den Rat seines Stabs sowie externer Berater im Bezug auf die Teststrategie in Pflegeheimen ausgeschlagen und einen eigenen Kurs gefahren haben. Pflegeheime entwickelten sich schließlich zum größten Covid-Krisenherd im Vereinigten Königreich mit mehr als 40.000 Todesfällen.
Doch das ist nicht der einzige Vorwurf: Hancock soll auch seine Ankündigung, bis Ende April 2020 mehr als 100.000 Covid-Tests pro Tag zu ermöglichen, nur mithilfe von Tricks ermöglicht haben; die Zahl sei letztlich in Wahrheit nie erreicht worden - anders, als Hancock das damals bei einer Pressekonferenz stolz verkündet hatte.
Ein Überblick über die Enthüllungen:
Entscheidende Fehler beim Umgang mit Pflegeheimen
Nachdem das britische Gesundheitssystem zu Beginn der Pandemie mit einem Mangel an PCR-Tests zu kämpfen hatte, rief Hancok am 2. April 2020 in einer TV-Ansprache das Ziel aus, zum Ende des Monats 100.000 tägliche Covid-Tests für die britische Bevölkerung ermöglichen zu wollen. In den folgenden Tagen stiegen die Infektionszahlen landesweit jedoch gravierend an und vor allem die Situation in Krankenhäusern und Pflegeheimen wurde zunehmend kritisch.
Helen Whately, die damalige (und heutige) britische Sozialministerin, schrieb Hancock am 8. April: "Beispiele aus anderen Ländern legen nahe, dass wir alle Bewohner von Pflegeheimen und deren Mitarbeiter testen sollten, unabhängig davon, ob sie Symptome aufweisen oder nicht." Hancock antwortete: "Ich bin auch dafür und die Kapazitäten, das umzusetzen, steigen schnell."
Am 14. April 2020, dem Tag, an dem die Teststrategie intern festgelegt werden sollte, legte Chris Whitty, der leitende Gesundheitsbeamte Englands, Hancock denselben Plan vor. Der damalige Gesundheitsminister antwortete: "Das ist offensichtlich ein positiver Schritt und wir müssen es in das Dokument aufnehmen."
Doch am Abend entschied Hancock anders, seine Strategie umfasste nur noch verpflichtende Tests für jene Patienten, die kürzlich aus Krankenhäusern in Pflegeheime übersiedelt sind. Sein externer Beraters Allan Nixon zeigte sich in einer WhatsApp-Nachricht überrascht über den Kurswechsel. Hancock antwortete:
"Na gut. Sag mir, wenn ich falsch liege, aber ich würde [...] lieber nur ALLE zu Tests verpflichten, die aus Krankenhäusern kommen. Ich glaube, großflächigere Tests bringen keinen Mehrwert und stiften nur Verwirrung. Leg dir das als Antwort parat, falls jemand fragt."
Vier Tage später meldete sich erneut Sozialministerin Whately bei Hancock und wies mit Nachdruck darauf hin, dass im März 2020 in Pflegeheimen 10.000 Todesfälle mehr als normalerweise verzeichnet wurden. Um 18:05 Uhr schrieb sie: "Ich würde immer noch gerne mit dir darüber reden, wenn du die Zeit findest." Hancock antwortete um kurz vor 22:00 Uhr: "Aargh sorry - habe das gerade erst bekommen - morgen". Ob das Gespräch stattfand, ist unklar.
Ziel von 100.000 täglichen Tests war der Grund
Hancocks unverständlicher Kurs wird erst anhand einer Nachricht vom 24. April klar. Da kontaktiert ihn ein Stabsmitarbeiter mit dem Vorschlag, doch zumindest in jenen Pflegeheimen, in denen in den letzten 14 Tagen ein Corona-Ausbruch festgestellt wurde, auch asymptomatische Patienten und Mitarbeiter zu testen. "Wir schätzen, dass dafür ca. 60.000 Tests in den nächsten zehn Tagen fällig werden", heißt es am Ende der Nachricht.
In seiner Antwort entlarvt Hancock den Grund für seinen Widerstand: "Das ist ok, aber nur, solange es meinem Ziel, die Testkapazität für die Bevölkerung auszuschöpfen, nicht im Weg steht". Mit verpflichtenden Tests für alle Bewohner und Mitarbeiter in Pflegeheimen sag der Ex-Gesundheitsminister sein ausgerufenes Ziel von 100.000 Tests gefährdet.
Bis Hancock erst am 17. August 2020 regelmäßige Tests für alle Bewohner und Angestellte in Pflegeheimen einführte, hatten sich die Einrichtungen bereits zum Corona-Krisenherd schlechthin im Vereinigten Königreich entwickelt. Mehr als 40 Prozent aller britischen Pflegeheime meldeten Corona-Cluster, alleine zwischen dem 14. April und dem 13. August starben landesweit fast 18.000 Menschen an den Folgen des Virus.
"ICH WILL MEIN ZIEL ERREICHEN!" - "das habe ich erfasst"
Am 1. Mai 2020 verkündete Hancock in einer neuerlichen TV-Ansprache stolz, sein Ziel von 100.000 PCR-Tests erreicht zu haben. Am 30. April seien sogar 122.000 Tests von Privatpersonen abgegeben worden. "Diese noch nie dagewesene Ausweitung der britischen Test-Kapazität ist ein unglaublicher Erfolg", so Hancock stolz.
Die Nachrichten zeigen nun, dass sich Hancock in den Tagen zuvor, von Panik getrieben, einiger Tricks behalf. So wussten er und sein Stab schon länger, dass der "Flaschenhals" nicht an dem Testangebot selbst, sondern an der geringen Zahl an Laborangestellten lag, die die PCR-Tests auswerten konnten. Die Labore hätten nur Kapazitäten für rund 20.000 Auswertungen pro Tag gehabt.
Am 27. April, drei Tage vor dem Ende der selbstauferlegten Frist für das 100.000-Ziel, wies Hancock einen Vertrauten selbst darauf hin: "Wenn nur 20% ausgewertet werden können, können wir ja trotzdem viel, viel, viel mehr hinschicken."
Einen Freund, den ehemaligen britischen Politiker und heutigen Herausgeber des Evening Standard, George Osborne, machte Hancock schließlich auf fast 22.000 ungenützte Testmöglichkeiten in öffentlichen Teststationen aufmerksam - obwohl er bereits wusste, dass all diese Tests nicht rechtzeitig ausgewertet würden. In einer Nachricht an Osborne schrieb Hancock unter anderem: "ICH WILL MEIN ZIEL ERREICHEN!" - Osborne antwortete trocken: "Das habe ich erfasst."
Biografin machte die Chats öffentlich
Hancock hatte schon vor den Enthüllungen kaum ein Fettnäpfchen ausgelassen. Er war im Juni 2021 zurückgetreten, nachdem eine Affäre zwischen ihm und einer hochrangigen Mitarbeiterin publik geworden waren. Fotos dokumentierten ein Treffen der beiden, das auch noch einen Verstoß gegen den damals geltenden harten Lockdown in Großbritannien darstellte. Im November nahm er dann an der neuesten Staffel des britischen Ablegers der Reality-TV-Sendung "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" teil.
Den Datenträger mitsamt all seiner WhatsApp-Nachrichten hatte der Ex-Gesundheitsminister im Sommer 2021 freiwillig der britischen Journalistin Isabel Oakeshott ausgehändigt. Sie schrieb mithilfe der Chats gemeinsam mit Hancock dessen Memoiren "Pandemic Diaries", das im vergangenen Dezember erschien.
Nun stellte Oakeshott selbst die unveröffentlichten Chats dem Telegraph zur Verfügung. Am Mittwoch rechtfertigte sie den Schritt in einem langen Text. Dort heißt es unter anderem: "Diejenigen, die Informationen im öffentlichen Interesse haben, müssen sie endlich preisgeben."