Politik/Ausland

Erdogan im Porträt, und warum der Putsch scheitern musste

"Wer ihn kennt, liebt ihn, wer ihn nicht kennt, ist sein Feind", sagte eine Türkin vor einiger Zeit bei einer Pro-Erdogan-Demonstration in Istanbul über Recep Tayyip Erdogan. In der Tat: Der türkische Präsident polarisiert, auch im eigenen Land.

Aber auch viele, die ihn kennengelernt haben, lieben ihn definitiv nicht: Türken zum Beispiel, die Erdogan wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht gezerrt hat, darunter zahlreiche Kinder, die in der Türkei ab dem Alter von 13 Jahren strafmündig sind und deren Vergehen darin bestand, ein Erdogan-Plakat von der Wand gerissen zu haben;

Parlamentsabgeordnete, deren Immunität mit den Stimmen der Regierungspartei AKP jüngst aufgehoben wurde, was vor allem auf die Verfolgung kurdischer Volksvertreter abzielt;

Medienleute, deren Redaktionen er schließen und die er wegen kritischer Berichterstattung verurteilen ließ;

Nutzer sozialer Netzwerke, die Erdogan gnadenlos überwachen lässt, wenn er nicht gerade Twitter oder andere Plattformen kurzerhand sperren lässt.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Dennoch liebt ein Großteil der Türken den 62-jährigen Präsidenten mit den Sultans- und Pascha-Allüren tatsächlich. "Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln", rief Erdogan in der Putschnacht seinem Volk ausgerechnet über Twitter zu, "sollen sie (die Putschisten) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen." Und tatsächlich strömten Zigtausende Türken auf die Straßen und skandierten "Gott ist groß" und "Recep Tayyip Erdogan".

Aufstieg und Wohlstand

Der Sohn eines aus Georgien migrierten Seemanns, der im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa aufwuchs und als Kind Sesamkringel verkaufte, stellt für viele Türken die Hoffnung auf Aufstieg und Wohlstand dar. Erdogan ist der Macher, der alles schafft.

Er wollte Fußballer oder Prediger werden und studierte nach einem Fachabitur für Imame Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften (sein Abschluss an der Uni ist heute umstritten). Er wurde Oberbürgermeister von Istanbul, dann Ministerpräsident, jetzt Präsident. Er ließ sich auch von ein paar Monaten im Gefängnis nicht unterkriegen ("Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten" hatte er Ende der 90er-Jahre aus einem religiösen Gedicht zitiert und dafür zehn Monate Haft und ein lebenslanges Politikverbot wegen Anstachelung zu religiösem Hass ausgefasst). Und er ermöglichte sich seine Rückkehr in die Politik mit einer kleinen Verfassungsänderung, als seine AKP 2002 die Wahlen gewann. Wer all das schafft, der darf sich schon einen Präsidentenpalast hinstellen in Ankara, der mit 1150 Zimmern alle Dimensionen sprengt und über den das Ausland den Kopf schüttelt – aber wer, wenn nicht er, hat ihn sich verdient?

Modernisierer und Islamisierer

Zumal Erdogan für viele Türken auch der ist, der nicht nur seinen, sondern vor allem den wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei zu verantworten hat. Und der im Westen einige Zeit als derjenige galt, der eine muslimische Musterdemokratie an der Grenze zwischen Europa und dem Nahen Osten aufbauen könnte – und dem es gelang, ein Land mit 75 Millionen Einwohnern und 99 Prozent Muslimen allen Fährnissen zum Trotz stabil zu halten.

Schon als Bürgermeister von Istanbul sorgte er für die Modernisierung der Infrastruktur einer verwahrlosten 15-Millionen-Einwohner-Stadt. Gleichzeitig führte der strenggläubige Muslim Regeln wie getrennte Badezonen oder Schulbusse für Buben und Mädchen sowie Alkoholverbot in städtischen Lokalen ein.

Erdogan ist überhaupt der Politiker der zwei Gesichter. Als er 2003 Ministerpräsident wurde, verabschiedete das Parlament weitreichende Reformen zur Demokratisierung des Landes – Abschaffung der Todesstrafe, Kampf gegen Folter, Erweiterung der Meinungsfreiheit, weitere Annäherung der Türkei an die EU. Nach ein paar Jahren, spätestens nach seinem Wahlsieg 2007, begann Erdogan sein anderes Gesicht zu zeigen: Verstärkte Islamisierung der türkischen Gesellschaft, Verfolgung von Kritikern, autokratisches Gehabe, das sich noch verstärkte, als vor drei Jahren erste Proteste gegen Erdogan entbrannten und Medien einen Korruptionsskandal in seiner Familie aufdeckten.

Sein militärisches Vorgehen gegen die Kurden mit unzähligen Opfern unter Zivilisten, sein Durchgreifen gegen aufständische Militärs, daneben sein Streben nach einem Präsidialsystem – das alles passt ins Bild des Machers, der alles schafft. Und der seinem Ziel, der absoluten Macht, nach dem gescheiterten Putsch einige Schritte näher sein könnte.

Der Putschversuch in der Türkei ist verhältnismäßig rasch kollabiert und war für Experten dilettantisch ausgeführt. Die fünf Hauptgründe, warum das Unternehmen scheiterte:

  • Erdogan konnte rasch seine Anhänger mobilisieren. Trotz der unübersichtlichen und gefährlichen Lage zogen Anhänger von Erdogan in der Nacht für ihren Präsidenten auf die Straße. Aber nicht nur das Volk, sondern auch die Oppositionsparteien stellten sich hinter Erdogan. Auch die Polizei blieb Erdogan treu. Sogar von Moscheen aus wurde die Bevölkerung zum Widerstand aufgerufen, berichtet der Poltikwissenschaftler und Türkei-Experte Cengiz Günay.
  • Die Putschisten verfügten über zu wenige Anhänger, um strategisch wichtige Orte zu besetzen und zu kontrollieren. Die Hoffnung, dass sich mehr Militärs anschliessen würden, hat sich nicht erfüllt. Armeechef Hulusi Akar und andere hochrangige Militärs blieben regierungstreu, ebenso stellte sich die Luftwaffe gegen die Putschisten, die lediglich sechs F-16-Kampfjets ergattern konnten. Laut dem Politologen Schmidinger war der Putsch "dilettantisch" ausgeführt, zumal keine wesentlichen Kräfte in der Türkei ihn unterstützten.
  • Die Putschisten konnten Erdogan nicht festsetzen. Er befand sich zu der Zeit in seinem Urlaubsdomizil in Marmaris. Erst nach seinem Abflug Richtung Ankara sei dann der Ort "bombardiert" worden (so hieß es auch Kreisen Erdogans).
  • Erdogan konnte geschickt die neuen Medien nutzen, um das Volk zum Widerstand gegen die Putschisten aufzurufen. Im Fernsehsender CNN Türk war Erdogan über ein in die Kamera gehaltenes Smartphone zu sehen, über Facetime sprach er ebenso zu seinem Volk wie über twitter. Die Botschaften verbreiteten sich rasend schnell unter den Erdogan-Anhängern. Der türkische Präsident nutzte so geschickt die sonst von ihm verhassten und teilweise bekämpften Online-Medien, um sich zu Wort zu melden.
  • Politiker aus aller Welt verurteilten den Putsch postwendend und stellten sich hinter Erdogan. So ließen die deutsche Kanzlerin Merkel oder US-Präsident Obama keinen Zweifel darüber, dass Erdogan das demokratisch legitmierte Staatsoberhaupt sei und die Putschisten die Waffen niederzulegen hätten.

Live-Ticker von den Ereignissen in der Türkei