"Lang, hart und blutig": Die Gegenoffensive der Ukrainer zwischen Erfolg und Scheitern
Die ukrainische Armee hat bei ihrer Gegenoffensive eigenen Angaben zufolge in der vergangenen Woche mehr als 16 Quadratkilometer von den russischen Streitkräften zurückerobert.
Im Süden der Ukraine seien mehr als zwölf Quadratkilometer Fläche zurückerobert worden, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Montag im Fernsehen.
In der Nähe der umkämpften Stadt Bachmut im Osten habe das ukrainische Militär weitere vier Quadratkilometer zurückerobert.
➤ Mehr lesen: Militärexperte zur Gegenoffensive: "Bis auf die USA könnte das keine NATO-Armee"
Entlang einer Frontlänge von rund 230 Kilometern fanden Gefechte statt.
Seit Beginn der Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete im Juni wurden nach Angaben von Maljar insgesamt rund 192 Quadratkilometer Fläche im Süden der Ukraine und 35 Quadratkilometer im Gebiet von Bachmut "befreit".
Ukrainer konnten Hälfte der Gebiete erobern
Nach Darstellung der USA konnten die Ukrainer damit mittlerweile etwa die Hälfte der Gebiete zurückerobern, die Russland bei seiner Invasion ursprünglich besetzt hatte.
Aber: Die jüngste Gegenoffensive stehe erst in den Anfängen und werde ein "sehr harter Kampf", sagte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag dem Sender CNN.
"Sie wird sich nicht in den nächsten ein, zwei Wochen abspielen", sagt er weiter. Vermutlich werde sie noch "mehrere Monate" dauern.
"Alles andere, als ein Misserfolg"
Etwas schärfer formulierte es US-General Mark Milley Anfang voriger Woche: "Es wird lang, es wird hart, es wird blutig." Die Ukraine hätte bereits gute Fortschritte gemacht: "Die Ukrainer rücken stetig und zielstrebig vor", so der Generalstabschef. "Das ist alles andere als ein Misserfolg."
Die ukrainischen Streitkräfte würden sich "langsam" und "bedächtig" durch die Minenfelder arbeiten, die derzeit eine besonders große Gefahr darstellten. "Die Verluste, die die Ukrainer bei dieser Offensive erleiden, gehen nicht so sehr auf die Stärke der russischen Luftwaffe zurück, sondern auf Minenfelder", sagte er.
Sein Fazit: "Ich denke, es gibt noch viel zu kämpfen."
Lukaschenko: "Es gibt keine Gegenoffensive"
Eine gänzlich andere Sichtweise auf die Gegenoffensive vertreten der russische Präsident Wladimir Putin - und sein enger Verbündeter Alexander Lukaschenko. Bei einem Treffen der beiden am Sonntag in St. Petersburg meinte der belarussische Präsident laut russischen Agenturen: "Es gibt keine Gegenoffensive."
Putin entgegnete: "Es gibt sie, aber sie ist gescheitert."
Von einer gescheiterten bzw. schleppenden Gegenoffensive der Ukrainer sprach der russische Präsident schon mehrmals.
Gleich wenige Wochen nach Beginn der Offensive - die Ukraine konnte einige Dörfer im Süden und kleine Gebiete um Bachmut rückerobern, der große Erfolg blieb jedoch aus - bediente Putin das russische Narrativ der gescheiterten Rückeroberung das erste Mal.
Alle "Versuche des Feindes", die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, seien "während des gesamten Zeitraums der Offensive" erfolglos geblieben. "Der Feind hat keinen Erfolg gehabt."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij konterte, man werde sich bei der Gegenoffensive nicht unter Druck setzen lassen. "Bei allem Respekt, wir werden auf dem Schlachtfeld so vorrücken, wie wir es für richtig halten."
Zuvor hatte Selenskij jedoch selbst einräumen müssen, dass die Fortschritte auf dem Schlachtfeld "langsamer als erwünscht" vonstattengingen. Der militärische Vorstoß gestalte sich nicht einfach, so Selenskij: Rund 200.000 Quadratkilometer Land waren von den Russen vermint worden.
"Werden unsere Soldaten nicht verfeuern"
"Das ist keine Show, bei der die ganze Welt zuschaut und Wetten abschließt", bat der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj um Geduld. Jeder Tag und jeder Meter würden mit Blut erkämpft.
Man rücke bewusst langsam vor, um hohe Verluste zu vermeiden, erläuterte der ukrainische Premier Denys Schmyhal das Herangehen der Streitkräfte.
Bei einer Gegenoffensive handle es sich um eine Reihe militärischer Einsätze, einige davon seien offensiv, andere defensiv. Manchmal seien taktische Pausen notwendig. "Wir werden unsere Soldaten nicht verfeuern, wie die Russen das tun."
Mitte Juni hat die Gegenoffensive der Ukraine begonnen.
Selenskij hätte an sicher gern "sehr viel früher" mit der Offensive zur Rückeroberung begonnen, doch mangelte es an Waffen und Material.
"In einigen Richtungen können wir nicht einmal daran denken, damit (mit der Gegenoffensive) zu beginnen, weil wir nicht über die entsprechenden Waffen verfügen", so Selenskij Anfang Juni.
Erneut Angriffe auf Odessa
Bei einem erneuten russischen Luftangriff auf die ukrainische Schwarzmeer-Stadt Odessa sind unterdessen vier Menschen verletzt worden.
Bei dem Drohnenangriff sei ein Getreidelager am Hafen zerstört worden, teilt das ukrainische Militär mit. Bei den Verletzten handle es sich um Hafenarbeiter. Ersten Erkenntnissen zufolge habe die Luftabwehr drei Drohnen abfangen können.
Russland hat nach dem Rückzug aus dem Getreide-Exportabkommen Odessa zuletzt fast täglich mit Raketen und Drohnen angegriffen. Die Führung in Moskau hat die Angriffe als Vergeltung für einen Angriff auf die Krim-Brücke bezeichnet, die Russland mit der 2014 annektierten Halbinsel verbindet und für den militärischen Nachschub wichtig ist.
Ukraine schickt Drohnen auf die Krim
Bei einem ukrainischen Drohnenangriff auf die seit 2014 von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist wiederum nach offiziellen Angaben erneut ein Munitionslager getroffen worden. Über der Krim seien elf Drohnen abgeschossen oder per Störfunk zum Absturz gebracht worden, teilte der von Moskau eingesetzte Statthalter Sergej Aksjonow am Montag auf seinem Telegram-Kanal mit.
Es gebe jedoch einen "Einschlag im Munitionsdepot im Landkreis Dschankoj". In sozialen Netzwerken sind Videos mit einer großen Rauchwolke zu sehen. Zudem sei ein Wohnhaus im Süden der Halbinsel beschädigt worden.
Drohnenangriff auf Moskau
Moskau ist nach russischen Angaben in der Nacht auf Montag von zwei Drohnen angegriffen worden. Verletzt worden sei niemand, es gebe keine größeren Schäden, teilte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit.
Eine Drohne sei im Zentrum der Hauptstadt entdeckt worden, eine weitere habe im Süden der Stadt ein Bürohochhaus getroffen, sagte ein Mitarbeiter der Notfalldienste. Dabei sei eine Explosion zu hören gewesen.
Ukrainische Verteidigungskreise haben den Angriff für sich reklamiert.
Dieser sei eine "Spezialoperation" des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR gewesen, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP aus ukrainischen Verteidigungskreisen.