Wenn fast alle Dorfbewohner für den Gemeinderat kandidieren
Von Walter Friedl
Damit hätte Igor De Santis, 42, wahrlich nicht gerechnet: Denn dem Bürgermeister von Ingria, der die Geschicke des winzigen Dorfes hoch in Bergen über Turin seit 2009 lenkt, ist für die Gemeinderatswahl kommendes Wochenende unerwartete Konkurrenz erwachsen. Seine Mutter kandidiert auf der Liste des Oppositionsführers Renato Poletto, 70. Doch das ist nicht die einzige Besonderheit des Urnenganges. Gleich 30 der nur 46 Einwohner bewerben sich um ein Mandat - von wegen Politikverdrossenheit...
Zu den wahlberechtigten Dorfbewohnern gesellen sich noch 26 Zweitwohnbesitzer, die allerdings auswärts wohnen. So wie Stefano Venuti, der in Mailand residiert, aber ebenfalls in Ingria in den Ring steigt. Ein weiterer Tiefschlag für De Santis.
Zur Kandidatur seiner Mutter meinte der Lokalpolitiker im "Guardian": "Ich habe sie gefragt, ob sie nicht auf meiner Liste kandidieren wolle, aber als sie sah, dass sich auf Polettos Liste hauptsächlich Frauen befinden, entschied sie sich für ihn." Tatsächlich sind in dieser Gruppierung neun von zehn Bewerbern Frauen.
Die Mutter des Ortschefs sieht kein Problem in ihrer Kandidatur: "Mein Sohn und ich wollen ja bloß das Beste für unsere Gemeinschaft. Und für mich sehe ich die Chance, Frauen eine stärkere Stimme zu geben." Auf die Harmonie in der Familie habe das alles keinen Einfluss.
Das in den Bergen des Soana-Tales idyllisch gelegene Ingria kämpft mit den typischen Problemen der Region: Abwanderung, schwache und schwindende Infrastruktur sowie Probleme durch Schneemassen im Winter. Hoffnungsschimmer für die Zukunft ist der anziehende Tourismus, nachdem der Ort auf die Liste der schönsten Dörfer Italiens gesetzt wurde.
Trotz der harten Konkurrenz zeigte sich Igor De Santis, dessen Großvater in dem Dorf 30 Jahre lang Bürgermeister gewesen war, wenige Tage vor dem Urnengang "optimistisch", eine vierte Amtsperiode erreichen zu können.