Bandenchaos in Haiti: Wo die Mörder regieren
Von Johannes Arends
In Port-au-Prince regiert die Gewalt, das Chaos, die Banden. Anders lässt sich nicht beschreiben, was momentan in der haitianischen Hauptstadt vor sich geht: Kriminelle Gangs führen einen offenen Krieg gegen Regierung und Polizei, kontrollieren inzwischen 80 Prozent des Stadtgebiets.
Schulen und Banken haben ebenso geschlossen wie die meisten Supermärkte. Essen gibt es nur noch an von Hilfsorganisationen geführten Ausgabestellen. Als ein britisches Kamerateam des TV-Senders Sky eine solche besucht, erzählt jede der anwesenden Frauen davon, schon von Bandenmitgliedern entführt und vergewaltigt worden zu sein.
Am Sonntag flogen auch die letzten Staaten ihr Botschaftspersonal aus, selbst der Präsident kann nicht mehr ins eigene Land. Wie konnte es so weit kommen?
Großangriff
Haiti, das ärmste Land Lateinamerikas, war schon immer ein instabiler Staat, gebeutelt von Armut, Korruption und Naturkatastrophen. Seit Jahren gewannen die rund 100 bewaffneten Gangs an Macht, sie verfügen über mehr Mitglieder und bessere Ausrüstung als die Polizei.
Um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, hatten die Vereinten Nationen im Oktober beschlossen, eine Einheit internationaler Soldaten unter kenianischer Führung nach Haiti zu schicken. Doch das Höchstgericht in Kenia befand den Schritt für verfassungswidrig. Vor zwei Wochen also flog Haitis Premierminister und Interimspräsident Ariel Henry nach Nairobi, um über eine Lösung zu verhandeln.
Die Gangs in Haiti nutzten seine Abwesenheit für einen beispiellosen Großangriff. Sie eroberten mehrere Polizeireviere sowie den Hafen der Hauptstadt, stürmten zwei Gefängnisse und befreiten mindestens 4.000 Häftlinge. Auch der internationale Flughafen ist seither zwischen Armee und Banden umkämpft. Henry kann also nicht mehr zurück, er weilt seit Tagen in Puerto Rico im Exil.
Bandenchef „Barbecue“
Als mächtigster Mann Haitis gilt deshalb inzwischen der Bandenboss Jimmy Chérizier, besser bekannt unter seinem Spitznamen „Barbecue“ – angeblich aufgrund seiner Vorliebe, seine Feinde zu verbrennen. Der 49-jährige Ex-Polizist steht einer der beiden mächtigsten Gangs des Landes vor, dem Bandenbündnis „G9“. Und es ist ihm gelungen, die anderen Gangs in Henrys Abwesenheit zur Zusammenarbeit zu bewegen.
Regelmäßig gibt „Barbecue“ internationalen Medien Interviews, in denen er sich als Freiheitskämpfer darstellt, der sein Land mit der Waffe in der Hand von korrupten Politikern befreien will. Sollte die internationale Gemeinschaft Ariel Henry weiter unterstützen und tatsächlich bald eine internationale Soldatentruppe auf Haiti landen, würde das einen „Bürgerkrieg“ bedeuten, erklärt der Kriminelle im Gespräch mit CNN. „Das wäre ein Genozid, vor allem Unschuldige würden sterben.“
Eine Drohung, die auf politischer Ebene angekommen zu sein scheint: Bei einem Treffen mit Vertretern karibischer Staaten forderten US-Diplomaten am Montag den Rücktritt Henrys, um Platz für eine Übergangsregierung zu machen.
Schließlich ist der Präsident, wie jeder aktuelle haitianische Politiker, nicht gewählt: Er folgte interimsmäßig auf seinen Vorgänger Jovenel Moïse – weil der 2021 erschossen worden war. Auch diese Geschichte beschreibt das Chaos auf Haiti: Als mutmaßlicher Drahtzieher des Präsidentenmords galt Nachfolger Ariel Henry selbst. Er reagierte, indem er den zuständigen Staatsanwalt und den Justizminister entließ.