Flüchtlingszahlen steigen weltweit: Blick in Libyens Lager
Die Zellen sind übervoll. Je nach Größe sind Dutzende, manchmal Hunderte Menschen in einen Raum gepfercht. Die Männer, Frauen und Kinder tragen meist jene Kleider an ihren Körpern wie an jenem Tag, als sie ihr Zuhause verlassen haben. Laut offiziellen Zahlen sind rund 6.000 Flüchtlinge – die meisten aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara – in staatlichen Internierungslagern in Libyen untergebracht. Inoffizielle Zahlen sind zigmal so hoch. Die Verantwortung liegt formal bei der libyschen Behörde zur Bekämpfung illegaler Migration (DCIM), die dem Innenministerium unterstellt ist. Die Organisation der Lager wird meist von Milizen durchgeführt.
Wer aus einem afrikanischen Land flüchtet, kommt an Libyen kaum vorbei. Und die meisten wissen, dass sie dort Schreckliches erwartet. Sandra Miller war sechs Monate mit der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Libyen und hat Insassen in fünf Lagern betreut. Sie behandelte dort Atemwegserkrankungen, Durchfälle, Haut-, Herz- oder chronische Krankheiten.
Letzte Würde verloren
Doch ein großer Teil der Beschwerden sind psychische Erkrankungen, die sich teils in körperlichen Symptomen niederschlagen, sagt die Krankenschwester: „Die Menschen in den Lagern leiden an Schlafstörungen, Depressionen, Angststörungen, die sich durch Muskel-, Rücken- oder Kopfschmerzen äußern“, erzählt Miller.
„Die Menschen schätzen es sehr, wenn jemand zuhört.“ Sie erzählen dann von Erlebtem auf der Flucht und von Enttäuschung, Ungewissheit. „Sie haben Angst, von der Welt vergessen zu werden.“
Viele Frauen und Männer berichteten, dass sie im Laufe der Flucht (Massen-)Vergewaltigungen erlebt hätten. „Man kann sich nicht vorstellen, was diese Menschen erlebt haben“, sagt Miller im KURIER-Gespräch. Durch sexuelle Gewalt oder andere Misshandlungen haben sie die letzte Würde verloren.
Manche verüben Suizid oder denken zumindest darüber nach. Manche verschwinden auch aus den Lagern von heute auf morgen und keiner wisse, wohin. Manche aber entwickeln eine Widerstandsfähigkeit und machen weiter und weiter, sagt Miller. „Irgendwo gibt es offenbar doch diese Hoffnung auf ein besseres Leben.“
70 Millionen Flüchtlinge
Diese Hoffnung hatten auch jene 70,8 Millionen Menschen, die laut UNHCR-Statistik im Jahr 2018 weltweit auf der Flucht waren. 2,3 Millionen mehr als 2017. Davon gelten 25,9 Millionen als Flüchtlinge, 41,3 Millionen, sind intern Vertriebene. Zwar landen weit weniger Flüchtlinge in Europa als noch vor drei Jahren.
Die Zahl der Asylanträge in Österreich (13.764) geht stark zurück. Doch die weltweiten Zahlen steigen. Die Menschen in den Lagern seien sehr wohl informiert über die restriktive Flüchtlingspolitik der EU, so Miller von Ärzte ohne Grenzen, aber sie „sehen keine andere Möglichkeit“. Sie seien sich des Risikos bewusst, das die Flucht mit sich bringt.