Experte: "Die EU war noch nie in einer so schwierigen Lage"
Die EU und Kanada halten an ihrem Gipfel am Donnerstag zur Unterzeichnung des CETA-Freihandelsabkommens trotz Ablehnung der Wallonie fest. Auch die Rede des kanadischen Premiers Justin Trudeau am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg soll stattfinden. Dennoch: Der CETA-Streit hat die EU-Krise vertieft. Über die Folgen sprach der KURIER mit dem ehemaligen österreichischen Spitzendiplomaten Stefan Lehne. Er gilt als profunder Kenner der EU und ist Mitarbeiter des renommierten Thinktank Carnegie Europe.
KURIER: Herr Lehne, die EU befindet sich seit Jahren in einer multiplen Krise, die jetzt auch die Außenhandelspolitik erfasst. Wie geht es weiter?
Stefan Lehne: Die EU war noch nie in ihrer Geschichte in einer so schwierigen Lage. Der wichtigste Krisenmanager – der Europäische Rat – ist kein guter "Multi-Tasker". In der Regel schafft der Rat es, sich mit einem großen Thema auseinanderzusetzen. Jetzt muss er sich mit den Ausläufern der Eurokrise, der Migrationskrise, dem Brexit und jetzt auch mit dem Fiasko der Handelspolitik gleichzeitig herumschlagen. Und das alles in einem außenpolitisch schwierigen Umfeld. Das europäische Führungspersonal macht derzeit einen reichlich überforderten Eindruck.
Droht nun das Ende der EU?
Ein Auseinanderbrechen der EU ist nicht völlig ausgeschlossen, aber nicht das wahrscheinlichste Ergebnis. Die größere Gefahr besteht darin, dass die EU ihre politische Gestaltungsfähigkeit einbüßt und zunehmend irrelevant wird. Das Heilige Römische Reich hat auch noch lange existiert, obwohl es politisch längst tot war.
Warum geht der EU-Zusammenhalt verloren?
Der wichtigste Faktor ist wohl die massive Gegenbewegung gegen die Globalisierung, die derzeit überall im Westen festzustellen ist. Diese liegt an der wachsenden Ungleichheit, an mangelnder wirtschaftlicher Dynamik, am zunehmenden Vertrauensverlust gegenüber Eliten und Institutionen. Die EU, die von ihrer DNA her ein Liberalisierungsprojekt ist, wird von vielen Menschen heute als Globalisierungsbeschleuniger gesehen und bekämpft.
Die Fliehkräfte werden jetzt aber immer bedrohlicher. Wie erklären Sie sich das?
Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Wegen der schlechten Stimmung gegenüber der EU ist die Reformfähigkeit abhanden gekommen. Eine an sich notwendige Vertragsreform würde an negativen Referenden scheitern und wird daher ständig verschoben. Mangels wirklicher Reformen geht das Durchwursteln weiter ohne tragfähige Ergebnisse. Und damit geht wieder weitere Unterstützung für die EU in der Bevölkerung verloren.
Welche Entwicklung ist besonders gefährlich?
Die Veränderung der politischen Landschaft, die sich auch in den wichtigen Wahlen in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden im Jahr 2017 bestätigen könnte. Anti-europäische und xenophobe politische Parteien gewinnen überall an Boden. Sie werden zwar in der Minderheit bleiben. Aber aus Angst vor dieser Konkurrenz sind auch die traditionellen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien zu EU-Skeptikern und Re-Nationalisierern geworden. Und das ist die wirkliche Gefahr.
Wird der Brexit die EU zerreißen?
Der Brexit ist ein großer Rückschlag, aber keine existenzielle Bedrohung für die EU. Großbritannien war aufgrund seiner zahlreichen Ausnahmeregelungen schon bisher nur teilweise dabei. Interessanterweise ist nach dem britischen Referendum die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft auf dem Kontinent gestiegen. Die Scheidungsverhandlungen mit Großbritannien dürften aber zu einer großen Belastung für die EU werden.
Auch am Kontinent fordern viele den EU-Austritt.
Ein Verlust der EU und eine Rückkehr zu 28 nationalen Märkten würde die wirtschaftliche Vernetzung und die transnationalen Produktionsketten zerstören, auf denen der Wohlstand Europas beruht. Es würde auch die Konkurrenz und Feindseligkeit unter den europäischen Ländern zunehmen. Das wäre eine politische und wirtschaftliche Katastrophe erster Ordnung. Es gibt keine sinnvolle Alternative zur Weiterführung der europäischen Integration, die allerdings reformiert und bürgernäher gestaltet werden muss. Trotz aller Krisen und Rückschläge bin ich zuversichtlich, dass sich letztlich die Vernunft durchsetzen wird.