EU-Wahl: Volksparteien abgestraft, Grüne, Rechte und Liberale legen zu
Ausgelassene Partystimmung im vierten Stock des Europäischen Parlaments in Brüssel: Hier feiern Sonntagnacht die europäischen Grünen – und zwar einen Erfolg, der die Ökopartei selbst überrascht. Große Zugewinne in Deutschland, Irland, Finnland, den Niederlanden und Frankreich. Sogar in Österreich, wo die Grünen aus dem nationalen Parlament geflogen waren, feiern sie ihr Comeback. Ska Keller, Spitzenkandidatin der europäischen Grünen strahlte: „Der Grüne Weg hat sich in ganz Europa ausgebreitet und für diesen fantastischen Erfolg gesorgt.“
Auf 67 Sitze (von insgesamt 751) kommen die europäischen Grünen im neuen Parlament. Diese grüne Welle, die einen Gewinn von fast 20 zusätzlichen Mandaten bedeutet, geht auch auf die deutliche gestiegene Wahlbeteiligung in ganz Europa zurück. In fast allen 28 EU-Staaten fiel sie signifikant höher aus als noch vor fünf Jahren. 50,5 Prozent aller rund 400 Millionen wahlberechtigter Europäer gingen dieses Mal an die Urnen. So hoch war die Wahlbeteiligung zuletzt vor zwei Jahrzehnten. Klares Zeichen der Wähler: Europa lebt.
Alles in allem aber haben von diesem stärkeren Andrang zur EU-Wahl nach ersten Prognosen zwei Seiten profitiert: Die europaskeptischen Parteien sowie die europafreundlichen Grünen und Liberalen, während die (ebenso europafreundlichen) traditionellen Volksparteien der EVP und Sozialdemokraten europaweit massive Verluste einfuhren.
„Hybride Wahlen“
Dass Österreicher für ein anderes Ergebnis sorgte, hat mit den jüngsten Ereignissen im Land zu tun. Und mit der Tatsache, dass Europa-Wahlen noch immer „hybride Wahlen“ sind: 28 Einzelwahlen und damit ein Stimmungstest für die nationale Befindlichkeit – und nur wenige Themen reißen Wähler in ganz Europa mit.
Offenbar blieben gerade beim emotionalen Klimathema die traditionellen Volksparteien dem Wähler viele Antworten schuldig. Sowohl Europäische Volkspartei (EVP) als auch die Sozialdemokraten haben jeweils an die 38 Mandate verloren. Die EVP kommt demnach auf etwa 178 Mandate, die Sozialdemokraten sogar nur noch auf 147. Der jüngste Gewinn der Sozialdemokraten in den Niederlanden und in Spanien konnte demnach den Abwärtstrend der europäischen Sozialdemokraten nicht stoppen. Die gemeinsame Stimmenmehrheit von EVP und Sozialdemokraten, die das EU-Parlament seit je her geprägt haben, ist damit Geschichte.
Der Trend – Abkehr von den großen Volksparteien hin zu Grünen, Liberalen (108 Mandate) und auch Rechten – zeigte sich am Sonntag besonders in Deutschland. Dort blieben CDU/CSU zwar trotz erheblicher Verluste weiter die stärkste Kraft. Diese Verluste schmerzen die Union allerdings umso mehr, als sie mit Manfred Weber (CSU) den Spitzenkandidaten der EVP ins Rennen um den Job des EU-Kommissionspräsidenten geschickt hatte. Dieses schwache Ergebnis dürfte den Weber-Kritikern wie etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in die Hände spielen und für noch mehr Widerstand gegen das System der europäischen Spitzenkandidaten sorgen.
Doch Macron selbst hatte ein bitteres Ergebnis zu verdauen: Seine liberale „Renaissance“-Bewegung blieb knapp hinter den französischen Rechtspopulisten von Marine Le Pen. Ein Schock für den französische Staatschef.
Kein rechter Tsunami
Und ein Triumph für die Chefin der „Rassemblement National“. Doch der zunächst erwartete Tsunami rechtspopulistischer Kräfte zeichnete sich auch nicht ab. Weniger stark als zunächst erwartet fiel der Stimmengewinn der rechtspopulistischen AfD aus. Auch die rechten „Finnen“ verbuchten Verluste. Die niederländischen Europakritiker rund um Geert Wilders ziehen gleich gar nicht mehr ins EU-Parlament ein. Doch die eigentlichen großen Gewinne für Europas Rechtspopulisten kamen vor allem aus Italien. Lega-Chef Matteo Salivini holte mit seiner Lega knapp ein Drittel der Stimmen im Land. Ein Teil des Stimmengewinns für die Populisten geht auch auf die britische Brexit-Partei von Nigel Farage zurück.
Insgesamt werden die Kräfte der Populisten nicht ausreichen, dem Parlament künftig den Kurs zu diktieren. Noch immer kommen, inklusive der EVP und der Sozialdemokraten, die europafreundlichen Parteien auf zwei Drittel der EU-Parlamentssitze. Damit haben sie weiter die klare Mehrheit.
Eine schwierige Aufgabe aber steht dem EU-Parlament nun bevor: Die Abgeordneten bestehen darauf, dass nur ein Spitzenkandidat einer EU-Parteienfamilie zum Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Juncker gewählt werden darf. Dafür muss entweder Manfred Weber (EVP) oder Frans Timmermans (Sozialdemokraten) oder ein Vertreter der Liberalen eine Mehrheit der EU-Abgeordneten hinter sich bringen. Bei dieser Entscheidung wollen die Grünen nun auch mitreden.