EU-Kommissionsposten: Merkel sagt "Nein", Macron sagt "Ja"
Wenn Angela Merkel wollte, dann wäre die wichtigste Personalfrage in der Europäischen Union im Handumdrehen gelöst. Immer wieder wurde sie als Kommissionschefin in Brüssel ins Spiel gebracht. Immer wieder erteilte sie den Werbern aber eine Absage: Jean-Claude Juncker, derzeit an der Spitze der Kommission; oder Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron. „Wenn sie es machen wollte, würde ich sie unterstützen“, sagte er in einem Interview.
Tatsächlich stünden Angela Merkel in Brüssel wohl all Türen offen. Sie ist die erfahrenste aller europäischen Regierungschefs. Sie genießt quer durch alle politischen Lager hohes Ansehen, ebenso im Ausland. In Harvard wurde sie zuletzt als „Anführerin der freien Welt“ geehrt und gefeiert. Würde die deutsche Kanzlerin also mit dem Job an der Kommissionsspitze liebäugeln, wäre die Debatte schnell beendet.
Doch nichts deutet darauf hin, in Brüssel suchen politische Fraktionen und Regierungschefs weiter hektisch nach einer Lösung – mit bisher überhaupt keiner Tendenz in eine klare Richtung. Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag sollten eigentlich die Namen für den wichtigsten EU-Job bereits gefunden sein.
Was aber könnte aus Merkels Sicht dagegensprechen, nach 14 Jahren an der Spitze Deutschlands, ihre Kanzlerschaft mit diesem einflussreichen Posten zu krönen?
Macrons Spiel
Vielleicht weil sie sich nicht zum Spielball machen will: Emmanuel Macron hat das klare „Nein, nein, nein“ von Merkel ganz genau gehört. Am Montagabend bekräftigt die deutsche Kanzlerin erneut, dass man am Prinzip des Spitzenkandidaten festhalten solle – und das ist für CDU und CSU Manfred Weber.
Der französische Staatschef taktiere bloß, mutmaßt man deshalb in Brüssel. Ihm ginge es vor allem darum, Weber als künftigen Kommissionschef zu verhindern. Der Bayer, der für die EVP als Spitzenkandidat in den Wahlkampf zog, ist Macron ebenso suspekt wie das ganze, vom EU-Parlament forcierte Spitzenkandidatensystem. Der Nachfolger für Jean-Claude Juncker wird im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs gekürt, lautet Macrons Mantra. Und es müsse „eine starke Persönlichkeit“ sein – also aus Sicht Macrons kein Manfred Weber.
Bringt er also Angela Merkel ins Gespräch – von der er mit Sicherheit weiß, dass sie nicht will –, kann dem französischen Staatschef niemand vorwerfen, er agiere anti-deutsch. Zu seinen anderen Favoriten für den Job zählt Macron überdies die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager und den französischen EU-Chef-Brexitverhandler Michel Barnier.
Selbst wenn sich Merkel im Spätherbst ihrer Kanzlerschaft darüber Gedanken gemacht hat, weiß sie, dass Brüssel für sie kein unbekannter, aber ein unberechenbarer Ort ist. 28 Mitgliedsstaaten lassen sich nicht so führen wie das Kanzleramt, das wie eine Wagenburg funktioniert. Es ist bekannt, dass die Kanzlerin nur wenigen Leuten vertraut und einen engen Zirkel aus loyalen Mitstreitern um sich hat. Volker Kauder, langjähriger Fraktionschef, gehörte in den erweiterten Kreis der Clique und wurde unter anderem wegen dieser Nähe von seinen Fraktionskollegen abgewählt.
Kurze Zeit später gab Merkel den Parteivorsitz auf und kündigte an, bis 2021 Kanzlerin zu bleiben. Damit hat sie festgelegt, was vielen ihrer Vorgänger nicht gelang. „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden“, sagte sie der Fotografin Herlinde Koelbl vor fast 20 Jahren, als sie sah, wie Helmut Kohl seine Macht verlor. So wollte sie nie enden.
Merkels Baustellen
Ihre Werte sind noch nicht so schlecht, dass man sie aus dem Amt jagen könnte. Im Gegenteil. Während Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer strauchelt und aus Sicht mancher CDUler die Kanzlerkandidatur verspielen könnte, gewinnt Merkel an Beliebtheit. Sollte sie sich wider Erwarten für den Kommissionsjob bewerben, würde in der umfrageschwachen CDU ein Streit um die Kanzlerkandidatur ausbrechen. Zudem kann Merkel nur abtreten, wenn der Bundestag parallel eine neue Kanzlerin oder Kanzler wählt.
Es ist also kompliziert. Und nicht die einzige Baustelle, die sie derzeit beschäftigt. Die Große Koalition schwächelt, die Bündnispartner büßten bei jeder Wahl Punkte ein. Dennoch hält Merkel weiter daran fest, prescht mit Themen vor: Einlenken beim Klimaschutz, Kompromiss bei der Grundsteuerreform.
Es geht um ihr politisches Vermächtnis und welche Spuren sie mit ihrem letzten Kabinett in Deutschland hinterlässt. Vorgezogene Neuwahlen würden ihre Kanzlerschaft verfrüht beenden, das gäbe nach so vielen Jahren an der Regierung keinen schönen Eintrag in die Geschichtsbücher. Selbiges gilt - sollte es sie bei veränderten politischen Umständen doch nach Brüssel ziehen - für den Kommissions-Job. Auch diese Position könnte ihre politische Vita beschädigen: Wer will sich schon mit dem Brexit beflecken?
Vielleicht hat Merkel bei all ihren Dementis auch etwas ganz anderes im Hinterkopf: Sie hat einfach keine Lust mehr auf den Polit-Zirkus. Mit ihrem Rückzug vom Parteivorsitz überließ die 64-Jährige sämtliche Agenden ihrer Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer; im EU-Wahlkampf machte sie sich auffällig rar. Politische Beobachter bescheinigten ihr gar Amtsmüdigkeit.
Was angesichts aller Spekulation um Merkels Abgang oder Doch-Aufstieg unbeachtet blieb: Ein Satz, mit dem sie einst ihr Interview bei Herlinde Koelbl beendete: „Ich will kein halb totes Wrack sein, wenn ich aus der Politik aussteige, sondern mir nach einer Phase der Langeweile etwas anderes einfallen lassen.“ Nicht auszuschließen, dass die Frau noch für Überraschungen gut ist.