Politik/Ausland

EU-Gipfel: Wie viel sozial soll es sein?

Für die einen ist es eine Schreckensvision – für die anderen ein unverzichtbares Ziel: Eine EU, die nicht nur eine Wirtschafts- und Handelsgroßmacht ist, sondern sich auch in Richtung einer Sozialunion entwickelt. Das würde bedeuten: Mehr Entscheidungsgewalt für Brüssel im Bereich Gesundheits-, Arbeits- und Sozialpolitik.

Die liegt aber derzeit überwiegend in den Händen der nationalen Regierungen. Und das solle auch so bleiben – das war eine der Botschaften, die Kanzler Sebastian Kurz am Freitag zum Sozial-Gipfel in die portugiesischen Küstenstadt Porto mitbrachte. Zehn weitere europäische Regierungschefs ziehen mit ihm in dieser Frage am selben Strang. Die andere Botschaft des Kanzlers: Er sei „extrem optimistisch“, dass wieder mehr Menschen in Österreich einen Arbeitsplatz finden. „Die Basis für einen starken Sozialstaat, für sichere Arbeitsplätze und einen erfolgreichen Standort ist der Sieg über die Pandemie“, sagte Kurz. „Wir wollen bis in einem Jahr über 500.000 Menschen zurück in die Beschäftigung bringen.“

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Und einen regelrechten "Turbo für Arbeit und Beschäftigung in Österreich" sieht der Kanzler im "Grünen Pass". In Österreich soll er bereits ab 19. Mai verfügbar sein, in der gesamtren EU ist er nicht vor Ende Juni zu erwarten. “Auf europäischer Ebene muss dieser Pass auch kommen", beharrt Kurz, "damit wir die Reisefreiheit wieder herstellen können."

Zum ersten echten Groß-Treffen seit Monaten sind am Freitag nicht nur EU-Staats- und Regierungschefs angereist, sondern auch Sozialpartner, Gewerkschaften und NGOs. Dabei war die Hoffnung auf eine Einigung in Richtung einer koordinierten, gemeinsamen EU-Sozialpolitik von vornherein gleich null.

Aktionsplan

Nur auf einen Aktionsplan konnte man sich in Porto einigen: Binnen zehn Jahren soll die schockierend hohe Zahl der von Armut bedrohter Menschen in der EU – 91 Millionen – um 15 Millionen gesenkt werden. Zudem sollen bis dahin 78 Prozent der Bürger einen Job haben; 60 Prozent sollen jährlich an einer Fortbildung teilnehmen, um den steigenden Anforderungen des Berufslebens gewachsen zu bleiben.

Offen blieb dabei allerdings, mit welchen konkreten Schritten dieses Ziel erreicht werden soll. Brüssel kann in sozialen Fragen mitreden, entschieden wird aber in den Hauptstädten. Dennoch macht die EU-Kommission Druck: „Es ist an der Zeit, unser soziales Gefüge zu flicken, das durch die Corona-Krise beschädigt worden ist,“ sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.

Ein hartes Jahr liege hinter der EU. Doch jetzt komme der wichtige Schritt der Erholung. Das beschlossene Paket mit 750 Milliarden Euro Corona-Hilfen werde dies unterstützen. „Wir müssen sicherstellen, dass der soziale Aspekt absolute Priorität hat“, sagte sie.

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Doch ein anderes Streitthema funkte da dazwischen – nämlich, ob Corona-Impfpatente vorübergehend freigegeben werden sollen. Dann könnten Hersteller in aller Welt die Vakzine produzieren, ohne dafür teure Lizenzgebühren an die Entwickler zahlen zu müssen. US-Präsident Joe Biden hatte dies zur Überraschung aller europäischer Politiker vorgeschlagen.

Schrecksekunde

Nach einer Schrecksekunde hieß es vonseiten Brüssels vage: Man sei für Gespräche offen. Kanzler Kurz stellt sich hinter die Behörde. „Wir unterstützen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und sind offen für Gespräche sowie den WTO-Prozess, den die Amerikaner vorschlagen. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich weltweit so rasch wie möglich geimpft werden, um die Pandemie zu besiegen.“

Ein klares Ja kam aus Polen, ein verhalteneres aus Italien und Frankreich. Doch Frankreichs Präsident Macron forderte auch: Die USA sollten endlich ihren Exportstopp für Impfstoffe aufheben. Dann gäbe es auch weltweit mehr verfügbare Vakzine. Zudem fragte er: „Was ist im Moment das Problem? Es geht nicht wirklich um geistiges Eigentum. Kann man geistiges Eigentum Laboren überlassen, die nicht wissen, wie man produziert und die morgen nicht produzieren werden?“, sagte er skeptisch.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel – beim Gipfel per Video zugeschaltet – bremst ganz offen und massiv. Sie hat die mächtige deutsche Pharmaindustrie im Rücken, die sich kategorisch gegen eine Aufweichung des Patentschutzes wehrt.

Schnell geht in dieser Frage ohnehin nichts: Damit die Welthandelsorganisation (WTO) über eine Aufhebung der Patente entscheiden darf, braucht sie erst das Ja der EU. Dafür müssen sich die EU-Staaten aber erst auf eine Linie einigen. Dass dies am Abend des Sozialgipfels geschehen würde, galt als unwahrscheinlich.