Erdogan zu Deutschland: "Im Moment öffnet ihr dem Terror die Türe"
Nach Kritik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Deutschland die Unterstützung von Terrorismus vorgeworfen. "Hey Deutschland, sei Dir bewusst, dass diese Terrorplage euch wie ein Bumerang treffen wird", sagte Erdogan bei einer Zeremonie am Donnerstag im Präsidentenpalast in Ankara.
"Wir machen uns Sorgen um eure Haltung. Im Moment öffnet ihr dem Terror die Türe." Erdogan fügte hinzu: "Man wird sich zeitlebens an euch erinnern, weil ihr den Terror unterstützt habt." Er sehe die Zukunft Deutschlands "nicht positiv".
"Den Schoß für Terroristen geöffnet"
"Seht euch das an, jetzt erteilen sie uns Lektionen, von wegen wir sind besorgt"
Erdogan verbat sich zugleich jede Einmischung in die türkische Politik. "Unsere inneren Angelegenheiten haben niemanden zu kümmern", sagte er. Merkel hatte die neuerlichen Festnahmen von Journalisten in der Türkei am Mittwoch als alarmierend bezeichnet. Erdogan sagte am Donnerstag unter Beifall seiner Zuhörer: "Seht euch das an, jetzt erteilen sie uns Lektionen, von wegen wir sind besorgt."
Merkel: Scharfe Kritik an Türkei
Der frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar hatte zuvor die bisherige Reaktion der deutschen Bundesregierung auf das Vorgehen der Führung in Ankara als viel zu schwach kritisiert. Der 55-Jährige wurde nach kritischen Berichten über den türkischen Geheimdienst in seiner Heimat wegen Spionage angeklagt und lebt daher in Deutschland. Cumhuriyet ist die letzte große regierungskritische Zeitung in der Türkei.
"Wir verlieren die Türkei gerade. Europa muss sich überlegen, ob es wirklich ein islamofaschistisches Regime in der Türkei akzeptieren will"
Der frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Dündar hatte die deutsche Bundesregierung zuvor kritisiert. "Berlin hat die Verhaftungen nicht einmal verurteilt. Besorgt sein hilft uns türkischen Journalisten nicht", bemängelte er in einem Interview der Welt. Er erwarte von den europäischen Regierungen vielmehr ein klares, mutiges Signal für die Demokratie in der Türkei. "Seit Jahren sind die Europäer dauernd besorgt, aber das ändert nichts." Zu viele europäische Regierungen dächten, dass sie unter Präsident Recep Tayyip Erdogan wenigstens eine stabile Türkei bekämen. "Wir verlieren die Türkei gerade. Europa muss sich überlegen, ob es wirklich ein islamofaschistisches Regime in der Türkei akzeptieren will."
Erdogan auf Liste der "Feinde der Pressefreiheit"
Die Organisation Reporter ohne Grenzen nahm Erdogan unterdessen auf ihre Liste der "Feinde der Pressefreiheit" auf. Erdogan kontrolliere nach mehreren Verhaftungs- und Schließungswellen im Zuge des aktuellen Ausnahmezustands inzwischen einen Großteil der relevanten Nachrichtenmedien, erklärte die Organisation. "Derzeit sind mindestens 130 Journalisten im Gefängnis; mindestens 140 Medien wurden geschlossen."
In der Türkei waren zuletzt der neue Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu und weitere führende Mitarbeiter des Blattes verhaftet worden. Die Sicherheitsbehörden werfen der Spitze der laizistisch orientierten Zeitung vor, das Gülen-Netzwerk und militante kurdische Gruppen zu unterstützen.
Weitere 137 Haftbefehle gegen Akademiker
Die Türkei erließ unterdessen einem Bericht von CNN Türk zufolge weitere 137 Haftbefehle gegen Akademiker, denen sie Verbindungen zu Gülen vorwirft. Die türkische Justiz hat seit dem Putschversuch mehr als 37.000 Menschen verhaftet. 100.000 Beamte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Vertreter anderer Berufsgruppen wurden suspendiert oder entlassen. Allein am Wochenende entließ die Türkei mehr als 10.000 Beamte, unter ihnen viele Lehrer und Mitarbeiter des Gesundheitssystems.
"Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu"
Unterdessen drohte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, ohne Fortschritte im Streit um die Visumfreiheit werde Ankara den Flüchtlingspakt mit der EU noch vor Ende dieses Jahres aufkündigen. "Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu", sagte Cavusoglu in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview der Neuen Zürcher Zeitung. "Wir warten nicht bis Jahresende."
Die EU-Kommission reagierte auf die Drohung der Türkei, den Flüchtlingspakt aufzukündigen, gelassen. Die EU stehe zu den Verpflichtungen des Abkommens, erklärte ein Sprecher der EU-Kommission am Donnerstag in Brüssel. Es handle sich dabei um "einen Vertrag, der auf beidseitigem Vertrauen" basiere - und dieser werde auch von beiden Seiten eingehalten.
FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer forderte am Donnerstag Europa auf, in der "Flüchtlings- und Migrationsfrage eigenständige Lösungsansätze" zu finden und sich "nicht von der Türkei erpressen zu lassen". Die Beitrittsverhandlungen müssten sofort beendet werden.
So wie Mungal stehen dutzende Demonstranten vor der Redaktion im Istanbuler Stadtteil Sisli, einem mit Shoppingmalls zubetonierten Viertel auf der europäischen Seite der Millionenmetropole. Sie halten Ausgaben der Zeitung oder Schilder mit der Aufschrift "Bogun egme" - "Beugt euch nicht" hoch. Diese "Wache für die Medienfreiheit" wird ununterbrochen durchgeführt - auch nachts. Dann wird eine mobile Suppenküche aufgebaut, die Demonstranten bekommen dann wärmende Speisen gegen die hochziehende Kälte.
Auch Selma Akkus gehört zu den protestierenden. Die 24-jährige Yogalehrerin steht in der Mittagssonne vor einem Wasserwerfer direkt vor der Redaktion. "Wir verwandeln uns immer mehr in eine Diktatur", kritisiert sie. "Es gibt doch keine freie Presse mehr bei uns, bald ist es hier wie in Syrien."
Am Montagmorgen wurden der Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu und weitere Redakteure festgenommen. Gleichzeitig durchsuchten Polizisten die Redaktionsräume in Istanbul und die Privatwohnungen der Journalisten. Der ehemalige Chefredakteur Can Dündar, der momentan in Deutschland lebt, wurde zur Fahndung ausgeschrieben.
Die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft sind angesichts der Tatsachen absurd: Denn die Cumhuriyet hat den Putschversuch umgehend vehement verurteilt, und auch die Gülen-Bewegung und den Terror der PKK immer wieder scharf kritisiert. Doch ebenfalls scharf angegriffen haben die Journalisten die islamisch-konservative AKP-Regierung.
Noch ist die 1924 gegründete Zeitung eine der letzten kritischen Zeitungen im Land. Für ihre Berichterstattung wurde das Blatt im September der alternative Nobelpreis zuerkannt. AKP-Kritiker befürchten, dass die Zeitung demnächst von einem staatlichen Treuhänder übernommen wird, oder gänzlich verboten wird. Denn seit der Niederschlagung des Putsches im Juli führt Erdogan eine "Säuberungswelle" gegen all diejenigen vor, die er für mitverantwortlich hält.
Der bekannte Cumhuriyet-Journalist Ahmet Sik verglich nach den Razzien die türkische Regierung mit einer mafiösen Organisation. "Die AKP ist keine politische Partei, sondern eine Mafia. Das Ziel ist es, jeden Bürger, der nicht zu der AKP gehört, mundtot zu machen", sagte Sik der regierungskritischen Zeitung "Birgün". "Falls die Behörden auf der Suche nach einer kriminellen Organisation sind, sollten sie den Sitz des Premierministers der Republik Türkei durchsuchen", sagte Sik weiter.
Kritische Worte, die Tayfun Sari teilt. Auch der 21-Jährige Student demonstriert vor dem Redaktionsgebäude für die Pressefreiheit. "Es geht hier um die Zukunft des Landes", sagt er. "Wenn wir jetzt keinen Widerstand leisten, dann ist es bald zu spät."
Angesichts des türkischen Vorgehens gegen die Oppositionszeitung Cumhuriyet hat der Deutsche Journalistenverband (DJV) von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) einen entschiedeneren Einsatz für die Pressefreiheit in der Türkei gefordert. Der Verband zeigte sich am Dienstag in Berlin "enttäuscht" von der bisherigen Reaktion Merkels.
"Das Schweigen der Kanzlerin ist unerträglich", erklärte DJV-Vorsitzender Frank Überall. Merkels Sprecher hatte am Montag auf Fragen nach dem Vorgehen der Türkei grundsätzlich auf die Pressefreiheit als "hohes Gut" und "zentral für jeden demokratischen Rechtsstaat" verwiesen. Er zitierte zudem eine mehrere Wochen alte Rede Merkels zum Wert der Pressefreiheit. Der DJV wertete diese Reaktion als Zeichen für "Desinteresse an der Verfolgung der Journalisten in der Türkei" seitens der deutschen Kanzlerin.
Auch der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff nannte die "Zaghaftigkeit der Bundesregierung" gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan unverständlich. "Es muss völlig klar sein, dass ohne eine Kehrtwende in der Türkei die Visafreiheit und ein EU-Beitritt überhaupt nicht denkbar sind", erklärte er.
Die türkischen Behörden hatten am Montag ihr Vorgehen gegen regierungskritische Medien verschärft und unter anderem den Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, Murat Sabuncu, festgenommen. Nach dem Putschversuch im Juli hatte Erdogan den Ausnahmezustand verhängt. Mehr als 35.000 Menschen wurden in der Türkei bereits inhaftiert. Die EU verhandelt mit der Türkei derzeit über eine weitere Annäherung.
Zudem übte das Blatt scharfe Kritik am Vorgehen der türkischen Behörden. Es sei ein Schlag gegen die Informationsfreiheit des Volkes, hieß es in einer Überschrift. Das türkische Wort für "Schlag" (darbe) kann auch als "Putsch" übersetzt werden.
Die Zeitung berichtete auch von Protesten in zahlreichen Städten der Türkei gegen die Festnahmen und Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft. Diese wirft der Zeitung vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zu unterstützen, die für den gescheiterten Militärputsch verantwortlich gemacht wird.
Cumhuriyet weist den Vorwurf der Komplizenschaft mit Gülen zurück. Man habe im Gegenteil gewarnt, Gülen sei eine Gefahr für die Republik, schrieb das Blatt. Der türkische Journalistenverband teilte mit, seit dem Putsch seien 170 Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sender und Nachrichtenagenturen geschlossen worden. 2.500 Journalisten seien arbeitslos.
Die Europäische Union und die USA haben das Vorgehen gegen das Blatt kritisiert. Bisher hat die türkische Regierung eine Stellungnahme angelehnt und beschränkt sich auf die Feststellung, das Vorgehen der Behörden sei rechtmäßig. Die westlichen Staaten befürchten, das NATO-Mitglied Türkei könne sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Putschisten von einer Demokratie in einen autoritären Staat verwandeln.