Einmal geht's noch: Johnson kommt zum Brexit-Finale nach Brüssel
Wer Lammfleisch aus Schottland liebt, der schafft am besten gleich Platz in der Tiefkühltruhe und beginnt einzulagern. Denn in rund drei Wochen könnten die fleischlichen Gustostückerl um mindestens 50 Prozent teurer werden. Dann nämlich, wenn sich das Vereinigte Königreich und die Europäische Union nicht in den nächsten Tagen auf ein Abkommen einigen. Und noch immer, auch nach dem Verstreichen unzähliger Fristen, sieht es nicht ganz danach aus.
Schon im Oktober hätte er auf dem Tisch liegen sollen – jener Vertrag, der die künftigen Beziehungen zwischen der EU und ihrem Ende Jänner ausgetretenen Ex-Mitglied Großbritannien regeln soll.
Doch nach monatelangen Verhandlungen spießen sich die Gespräche zwischen Brüssel und London noch immer an denselben Punkten: Die gemeinsamen Wettbewerbsregeln und die Frage, wie ein Streit geschlichtet werden kann, wenn Großbritannien diese Regeln unterlaufen sollte. Beim dritten strittigen Punkt, den Fischerrechten in britischen Gewässern, dürfte am Wochenende ein Kompromiss erzielt worden sein.
Johnson wird in Brüssel erwartet
Montagabend gingen noch einmal die Chefs ran: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Boris Johnson telefonierten miteinandern, um ausloten, wie man zueinanderfinden könne. Doch man kam nur zum dürren Ergebnis: „Es gibt noch keine Bedingungen für ein Abkommen“, twitterte von der Leyen nach dem Gespräch. Offenbar aber soll noch ein letzter, ernsthafter Versuch unternommen werden: In den kommenden Tagen wird Boris Johnson zu direkten Gesprächen mit der EU-Kommissionschefin nach Brüssel reisen.
Es geht ums Prinzip. Johnson und die hinter ihm stehenden Brexit-Hardliner wollen sich von den EU-Regeln lösen, vor allem was die Staatsbeihilfen betrifft. Mit anderen Worten: Völlige Souveränität oder das von Johnson beschworene Mantra „take back control“.
Doch genau das wird ihm die EU nicht gewähren: Wer Zugang zum riesigen Binnenmarkt der EU haben will, der müsse auch alle Regeln und Standards der Union einhalten. Andernfalls erwachse der EU vor ihrer Haustüre ein Konkurrent, der den eigenen Markt unterwandere.
Dann schon lieber „kein Abkommen um jeden Preis“, ist in Brüssel zu hören. Oder, wie es ein mit den Verhandlungen vertrauter Diplomat formuliert: „Wir werden jetzt nichts unterschreiben, was wir in spätestens zehn Jahren bereuen.“
Die Uhr tickt
Außenminister Alexander Schallenberg, der sich gestern in Brüssel auf den letzten Stand der Verhandlungen bringen ließ, hofft zwar immer noch auf eine Einigung – und „sei es fünf Sekunden vor zwölf“.
Doch die Uhr läuft. Und am 31. Dezember ist endgültig Schluss. Ist bis dahin kein Abkommen ausgearbeitet und auch von London und dem EU-Parlament angenommen, vollzieht das Vereinigte Königreich den letzten Akt seiner Scheidung von der EU. Dann tritt es auch aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion aus.
Weitere Post-Brexit-Gespräche werde es im nächsten Jahr nicht mehr geben, bestätigte gestern ein Sprecher der britischen Regierung. Und das sieht man auch in Brüssel so. Denn dann sei Großbritannien für die EU ein Drittstaat – nicht anders als Kamerun oder Indonesien.
Gehen Großbritannien und die EU mit Jahresende ohne Deal auseinander, werden ab 1. Jänner Zölle und Einfuhrquoten schlagend. Vor allem bei in die EU importierten Lebensmittel würden die Preise mindestens um ein Drittel steigen, bei Kleidung um elf, bei Autos um zehn Prozent.
Schlagartig enden würde auch die Sicherheitskooperation – kein Austausch von Daten mehr, keine gegenseitigen Informationen über Terrorwarnungen, Kriminalität und außenpolitische Ereignisse.