Brexit-Expertin: Verschiebung wahrscheinlicher als No-Deal
Nach Ansicht der Politikwissenschafterin Melanie Sully ist eine neuerliche Verschiebung des britischen EU-Austritts wahrscheinlicher als ein No-Deal-Brexit Ende Oktober. "Wahrscheinlich wird eine Verschiebung notwendig sein für Neuwahlen", sagte Sully im APA-Gespräch. Die Frage sei, ob es zu einer kurzen Verschiebung für Neuwahlen komme oder zu einer längeren für ein zweites Referendum.
Neuwahlen könnten frühestens Ende November stattfinden, sagte Sully. Für ein Referendum müsste der Brexit hingegen bis ins nächste Jahr verschoben werden.
Für den britischen Premier Boris Johnsin sieht die Expertin mehrere Möglichkeiten, die Verantwortung für die neuerliche Verschiebung abzuwälzen. So könnte er bereits zum Stichtag 19. Oktober zurücktreten und argumentieren, dass er nicht mehr das Pouvoir habe, den Verschiebungsantrag nach Brüssel zu schicken. Spätestens stürzen werde seine Regierung am darauffolgenden Montag, wenn das Unterhaus über die Thronrede abstimme, sagte Sully.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Johnson neben der Verschiebungsbitte einen weiteren Brief an die EU schicke, in dem er sich von der Verschiebung distanziere. Das wäre ein "Dilemma für die EU", die dann selbst die Verantwortung für eine Verschiebung - oder eben für einen No-Deal-Brexit - übernehmen müsste. Johnson könnte dann vor die Wähler treten und sagen: "Ich habe den Brief nur geschickt, weil ich ihn schicken muss."
Johnson könnte sein Gesicht auch wahren, indem die heiße Kartoffel an einen anderen Politiker weiterreiche. Sully nannte in diesem Zusammenhang den Vizepremier Michael Gove, der sich in der Vergangenheit bereits für einen Brexit-Aufschub bis 2020 ausgesprochen habe. Entsprechend könnte Johnson nach seinem Rücktritt Gove als neuen Regierungschef der Queen vorschlagen.
Labour zu Neuwahlen bereit
Allerdings wäre Oppositionsführer Jeremy Corbyn die "logische Wahl" als Nachfolger. Gegen den Labour-Chef gebe es aber Vorbehalte, weil seine Gegner befürchten, "er könnte es sich in der Downing Street bequem machen". Corbyn selbst habe auch kein Interesse daran, mit Verantwortung für die neuerliche Verschiebung des Brexit in Neuwahlen zu gehen, weil er dadurch Stimmen in den EU-kritischen Labour-Hochburgen Nordenglands riskieren würde, erläuterte Sully.
Neuwahlen generell ist die Labour-Opposition nicht abgeneigt und würde eine solche am 26. November unterstützen, sollte es nicht zu einem Brexit bis Ende des Monats kommen, schreibt die Zeitung The Sun. Labour werde einer Auflösung des Parlaments zustimmen, wenn Premierminister Boris Johnson dies vorschlagen sollte.
Vieles hänge aber auch davon ab, was das Unterhaus mache. Dieses hat sich bisher nur darauf verständigen können, den Brexit hinauszuschieben. Zwar wolle Johnson weiter einen Deal, und auch die EU habe diesbezüglich noch nicht aufgegeben, doch sei äußerst ungewiss, ob der Premier einen etwaigen Deal überhaupt durch das Parlament bringen würde, sagte die Expertin. Schließlich "hat er bis jetzt noch keine Abstimmung gewonnen". Es sei vor diesem Hintergrund auch möglich, dass der bereits drei Mal vom Unterhaus abgelehnte Deal von Johnsons Vorgängerin Theresa May neuerlich zur Abstimmung kommt. Eine weitere Variante wäre, im Schnellverfahren den Verbleib des Vereinigten Königreichs im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu beschließen, um die Gefahr eines Hard Brexit fürs erste zu bannen. Allerdings wäre dafür neben der Zustimmung der EU auch jene von anderen EWR-Mitgliedern wie Norwegen erforderlich.