Politik/Ausland

Brexit-Chaos: "Wir hätten das alles gar nicht erst anrühren sollen"

Der Zeitungsverkäufer schüttelt den Kopf, während er die Zeitungen mit ihren hysterischen, Brexit-bezogenen Schlagzeilen ordnet. „Wir hätten das alles gar nicht erst anrühren sollen“, sagt er mit einem tiefen Seufzer. Sein Geschäft fungiert auch als Postamt. „Gestern wollte einer ein Paket nach Europa verschicken, und wir wussten nicht, ob er nun eine Zollerklärung ausfüllen soll oder nicht. Aber jetzt haben wir ja keinen Deal, also bleibt erst einmal alles gleich. Und wenn ich heuer auf Urlaub fahre, nehm ich mein Handy erst gar nicht mit. Man kann ja nie wissen.“

Ratlosigkeit

Solch ratlose Verwirrung in der Bevölkerung ist mitzubedenken, wenn man liest, wie viele Briten „No Deal“ unterstützen. Viele davon glauben, dann bliebe alles beim Alten. Im Falle eines zweiten Referendums hinge ihre Antwort entscheidend von der Formulierung der Frage ab.

Fest steht, dass bei diesen Straßengesprächen eine Mehrheit den Brexit gründlich satt hat. Auch hier in Sittingbourne, Kent, einer jener Kleinstädte, die 2016 mit großer Mehrheit für den EU-Austritt stimmten. Der Tontechniker Mike Thorne lebt mit seiner deutschen Partnerin Petra in einem idyllischen Haus und Studio am Ortsrand. „Unsere Katzensitterin ist mit dem örtlichen UKIP-Kandidaten zusammen“, erzählt er, „sie ist an sich ein zauberhafter Mensch. Aber neulich hat sie gemeint, sie sei froh, selbst irische Vorfahren zu haben, weil sie sich nun einen irischen Pass besorgen könne.“

Brexit macht krank

Der Widerspruch darin, gleichzeitig als Britin aus der EU austreten und als irische EU-Bürgerin schrankenlos Europa bereisen zu wollen, sei ihr nicht aufgefallen. Thornes Partnerin Petra sagt, die vom Brexit verursachte persönliche Unsicherheit mache sie buchstäblich krank: „Kopfschmerzen, Tinnitus, man ist ständig angespannt, man wacht morgens mit dem Gedanken auf, und er zieht sich durch den ganzen Tag. Wenn man in einen Supermarkt geht, versucht man, möglichst nichts zu sagen oder nur ganz kurz zu sprechen, damit niemand merkt: Die hat keinen britischen Dialekt.“

Auf dem Londoner Parliament Square, rund 70 Kilometer nordwestlich von Sittingbourne, nimmt sich schon lange keiner mehr ein Blatt vor den Mund. Steve Bray, der seit dem Inkrafttreten des EU-Austrittprozesses vor zwei Jahren hier täglich seinen Protest abhält, ruft in seinen langen Blechtrichter: „Wir hassen Faschisten!“

„Stoppt die Verräter“

Das in etwa zwanzig Meter Entfernung versammelte, teils in gelbe Signalwesten gehüllte Pro-Brexit-Kontingent fühlt sich angesprochen. „Und wir hassen Steve!“, schallt es zurück. „Stoppt die Verräter“ brüllt ein untersetzter Mann, der mit seinem Handy demonstrativ die Pro-Europa-Aktivisten filmt: „Alles Abschaum, eine absolute Schande!“

„Wir sind nicht rechtsextrem, wir haben bloß recht“, ruft eine Frau, und „Tu den Gehstock weg, du brauchst ihn nicht!“ Der schmächtige Mann, an den sich das richtet, stützt sich auf einen Stock, während er in seiner anderen Hand eine EU-Flagge hält. Er heißt Dave, kommt aus Devon im Südwesten der Insel und demonstriert hier nun schon seit anderthalb Jahren vier Tage die Woche. „Das sind bloß Möchtegern-Gelbwesten“, winkt er ab. Er sei schon getreten, beschimpft, geschubst und angespuckt worden, habe aber keine Angst.

Für Demos Job quittiert

„Die sind zu faul, um gewalttätig zu werden“, sagt eine Engländerin, die eigentlich in Spanien lebt, aber dort ihren Job aufgab, um hier zu protestieren. „Das ist der einzige Weg, meine Meinung kundzutun,“ erklärt sie. Wegen ihrer langen Abwesenheit habe sie kein Stimmrecht mehr, obwohl sie auch in Großbritannien noch Steuern zahle.

Robert Rotifer, London

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