Ein Jahr Milei in Argentinien: Das Volk kämpft um jeden Peso
Von Johannes Arends
Die Stille des Geldautomaten verschluckt alle anderen Geräusche. Sie erfüllt das Foyer der Galicia-Bankfiliale, fünf, vielleicht zehn Sekunden lang. Dann: Enttäuschung. Die Maschine spielt ihr altes Lied: „Dieser Betrag ist nicht verfügbar.“
Nächster Versuch, diesmal mit deutlich verringerter Summe. Dann, endlich, beginnt der Automat zu rattern und spuckt einen gewaltigen Batzen gelber Scheine aus. Es sind umgerechnet knapp 70 Euro. Die Bank verrechnet dafür eine Transaktionsgebühr von 16 Euro.
Wer zur Zeit in Argentinien Geld abheben möchte, muss sich an einer Art gesellschaftlichem Glücksspiel beteiligen. Hat dieser Bankomat genug Geld oder nicht? Akzeptiert er meine Karte? Wie hoch ist die Abhebegebühr, wie sieht der Wechselkurs aus? Dank der absurden wirtschaftlichen Situation gibt es auf keine dieser Fragen eine klare Antwort.
Eine Stadt im finanziellen Überlebensmodus
Die Hyperinflation hält Argentinien im Würgegriff, in diesem Jahr lag sie im Schnitt über 200 Prozent. Der Peso verliert ständig an Wert, das Ersparte der meisten Argentinier hat sich damit in Luft aufgelöst.
Man sieht es ihnen an: Viele Menschen sehen müde aus, verkaufen in der U-Bahn einfache Waren wie Taschentücher oder Müllsäcke und scharen sich um die Imbissläden mit den billigsten Angeboten. Buenos Aires, vor hundert Jahren noch eine der reichsten Metropolen der Welt, ist heute eine Stadt im finanziellen Überlebensmodus.
Als Schuldige an der Krise gelten die linkspopulistischen Peronisten (benannt nach Parteigründer und Ex-Präsident Juan Perón), die Argentiniens Politik seit Jahrzehnten prägen und regelmäßig die Regierung stellten, zuletzt vier Jahre lang unter Ex-Präsident Alberto Fernández.
Unter ihm nahm der stark verschuldete Staat während der Pandemie übermäßig viel Geld in die Hand, um dem Volk auszuhelfen. Gleichzeitig ließ er die Notenbank ständig neue Pesos drucken, um die Staatsschulden zurückzahlen zu können - und befeuerte damit die Inflation.
Ein Jahr Milei: "Wirtschaftspolitisches Experiment am lebenden Patienten"
Seit dem 10. Dezember 2023 ist der selbsternannte "Anarcho-Kapitalist" Javier Milei an der Macht; ein glühender Verfechter der freien Marktwirtschaft, von dem das Zitat überliefert ist, er würde Staaten generell "verabscheuen". Milei setzt auf einen radikalen Sparkurs: Unter anderem entließ er tausende Beamte, kürzte Pensionen und Sozialleistungen wie Energiekostenzuschüsse für Haushalte.
Aus Volkswirtschaftlicher Sicht wirken diese Schockmaßnahmen bereits. Zunächst trieben sie die Inflation noch weiter in die Höhe, doch seit April sinkt sie langsam, aber beständig. Im Oktober lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat erstmals unter 200 Prozent (193 %). Gleichzeitig ist im ersten Jahr unter Milei die Armutsrate gestiegen: Von 40 auf 53 Prozent.
Europäische Diplomaten bezeichneten das, was in Argentinien vorgeht, im Gespräch mit dem KURIER als “wirtschaftspolitisches Experiment am lebenden Patienten“. Die 180-Grad-Wende von den Peronisten zu Milei "wäre ja unglaublich faszinierend, wenn nicht die Bevölkerung den Preis dafür zahlen müsste."
Inoffizieller "Blue Dollar"-Kurs auf den Straßen
Nur, wer die Zeichen der Zeit früh erkannt und sein Erspartes rechtzeitig in Fremdwährungen angelegt hat, konnte den schlimmsten Auswirkungen der Inflation entgehen. Doch auch das ist nicht so einfach, wie es klingt.
Wer in einer argentinischen Bank Geld wechseln möchte, muss einen Ausweis hinterlegen. Argentinier dürfen nämlich maximal 200 US-Dollar pro Monat wechseln. Eine verzweifelte Maßnahme, mit der die Fernández-Regierung verhindern wollte, dass der Wert des Peso weiter sinkt.
Doch der Staat kann den Willen des Volkes nur bedingt beeinflussen. Schon lange ist der US-Dollar so in Argentinien zur Schattenwährung geworden. Vor zehn Jahren säumten sich in Buenos Aires bereits illegale Wechselstuben. Noch nie hatten sie so viel Kundschaft wie heute.
Es ist eine Wissenschaft für sich: Der offizielle Wechselkurs beträgt aktuell ca. 1.000 Pesos für einen Dollar. Daneben gibt es aber die sogenannte “Blue Dollar“-Rate, also einen inoffiziellen Kurs, an den sich fast alle Wechselstuben halten. Er ist deutlich besser, aktuell um 12 Prozent. Am Zenit der Krise, vor rund einem Jahr, war er doppelt so hoch wie der offizielle Wechselkurs.
Banken verlangen 16 Euro Gebühr für 66 Euro Bargeld
Selbst im hippen Künstlerviertel Palermo Soho ist die Krise angekommen. Internationale Restaurants reihen sich hier an noble Geschäfte, über vier Blocks erstreckt sich Samstags ein Markt für Handwerker und Künstler. Sie alle bevorzugen Fremdwährungen - und bieten ihren Kunden neuerdings sogar an, in Raten zu bezahlen.
Kartenzahlungen werden sowieso kaum noch akzeptiert. Wer abseits von Supermärkten und Luxusrestaurants etwas kaufen will, braucht „efectivo“ – Bargeld.
Doch die Banknoten wuchsen nicht im selben Ausmaß wie die Inflation: Jahrelang war der 1.000-Pesos-Schein der größte im Land, heute ist er etwas weniger als einen Euro wert. Seit Mai diesen Jahres sind zwar 10.000-Pesos-Scheine im Umlauf, aber äußerst selten.
Ein durchschnittlicher Bankomat hat deshalb nur genug Geld für eine Handvoll Kunden. Die Argentinier wissen das, sie strömen entweder frühmorgens oder unmittelbar nach der Mittagspause zu den Banken, wenn dort Wachmänner mit Maschinengewehren vor der Tür stehen - denn das heißt, dass gerade frisches Geld angeliefert wird.
Wer den richtigen Moment verpasst, muss draufzahlen. Die meisten Banken verrechnen hohe Transaktionsgebühren, an schlechten Tagen bis zu 17.000 Pesos (ca. 16 Euro). Ein stolzer Preis, vor allem angesichts des argentinischen Durchschnittseinkommens von 450 Euro Brutto. Es lohnt sich also, viel auf einmal abzuheben - doch das ist selten möglich.
Die Mittelschicht wurde ausradiert
Milei ist angetreten, um mit diesen Absurditäten aufzuräumen, doch nach einem Jahr haben sie immer noch Bestand. Was die Argentinier von ihrem neuen Präsidenten halten? In Buenos Aires erhält man meist dieselbe Antwort: "Er ist verrückt, aber zumindest völlig anders als die Peronisten. Und schlechter kann es sowieso nicht mehr werden."
Dabei zeigen alltägliche Szenen, dass es für einen Teil der Bevölkerung sehr wohl schlechter wird. Zum Beispiel in Palermo Soho, wo zwei Männer den Gastgarten eines modernen Cafés betreten. Sie wirken gepflegt, tragen saubere Hemden und weiße Sneakers, ein typisches Outfit der Mittelschicht. Doch in Argentinien ist niemand mehr sicher vor der Krise.
“Schönes Wochenende allerseits“, sagt der Ältere. “Mein Name ist Joaquín, das ist mein Sohn Antonio.“ Aus seiner Jackentasche holt der Vater eine Packung Spielkarten hervor und hält sie in die Höhe. "Ich habe vor Kurzem meinen Job verloren und Antonio findet keinen mehr. Um seine kleine Schwester versorgen zu können, sind wir auf jeden Peso angewiesen. Bitte kaufen Sie von uns."