Afghanistan: Mehr zivile Opfer durch Regierungsverbände
Von Stefan Schocher
In Afghanistan herrscht Krieg – jeden Tag. Und jeden Tag sterben Zivilisten. Am Mittwoch veröffentlichte die UNO Zahlen zu den Opfern der täglichen Kämpfe. In den ersten drei Monaten des Jahres wurden demnach 1773 Zivilisten verletzt oder getötet. 581 davon starben. Die gute Nachricht: Das sind weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, in dem 2305 Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die schlechte Nachricht: Erstmals seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen zu den Opfern des Krieges in Afghanistan durch die UNO haben regierungstreue und NATO-Kräfte mehr zivile Todesopfer zu verantworten, als die Aufständischen. 305 Zivilisten wurden bei Aktionen der regierungstreuen Kräfte getötet. 227 Unbeteiligte starben bei Aktionen der Taliban, des IS-Ablegers in Afghanistan und anderer Gruppen. 49 Todesopfer konnten keiner Seite zugeordnet werden. Verwundete und Tote zusammengenommen gehen aber nach wie vor mehr Opfer auf das Konto extremistischer Gruppen.
Erklärt wird der Anstieg der Todesopfer bei Aktionen der regierungstreuen Kräfte vor allem durch zwei Umstände: Rund die Hälfte der Todesopfer starben bei Luftangriffen. Zu solchen greifen NATO-Einheiten und afghanische Truppen vor allem, wenn sie Ziele am Boden nicht erreichen können – was in Afghanistan rund ein Drittel der Fläche ausmacht, die von den Taliban kontrolliert wird. Das wiederum ist vor allem eine Folge der massiven Reduzierung von ausländischen Bodentruppen. Die NATO hat derzeit rund 16.000 Mann im Land, die aber in erster Linie mit der Ausbildung afghanischer Kräfte beschäftigt sind, fallweise aber auch Unterstützung leisten. Afghanische Einheiten sind dem Druck der Aufständischen aber kaum gewachsen. Sie fordern oft Luftunterstützung an. Diese Luftangriffe aber sorgen für großen Unmut in der Bevölkerung und hatten immer wieder auch Proteste zur Folge, die wiederum der Regierung schaden.
Der zweite Grund: In den ersten drei Monaten des Jahres 2018 gab es eine Serie großer Selbstmordanschläge. 19 wurden dokumentiert. In den ersten drei Monaten des Jahres 2019 wurden vier gezählt.
Woran das liegt, ist nicht klar. Als Gründe werden der harte Winter, Konflikte zwischen aufständischen Gruppen (vor allem zwischen den Taliban und dem IS) aber auch die Gespräche zwischen den Taliban und den USA genannt. Denn nach wie vor sind die Taliban die dominierende Fraktion im Lager der Extremisten. Der IS konnte seine anfängliche Expansion nicht fortsetzen und kontrolliert heute nur kleine Gebiete vor allem an der Grenze zu Pakistan.
Das bedeutet aber keinesfalls, dass der Krieg im Abflauen ist. Tatsächlich scheinen vor allem die Taliban zuletzt aber vermehrt auf eine etwas weichere Strategie zu setzen – nachdem sich gezeigt hat, dass große Anschläge mit vielen zivilen Opfern, wie sie der IS eine Zeit lang betrieben hatte, vor allem dem Ruf schaden.
Für die Taliban spielt das durchaus eine Rolle, rechnen sich doch zumindest die Pragmatiker unter ihnen eine Einbindung in den politischen Prozess des Landes aus. Gespräche mit den USA laufen – allerdings vor allem über Konditionen über einen sicheren Abzug der US-Truppen. Trump will die US-Truppen im Land ja drastisch reduzieren. Ergebnisse dieser Gespräche sind nicht bekannt.
Eine Beteiligung der Taliban am politischen Prozess ist aber auch für die afghanische Regierung ein Thema. Allerdings eines mit Fallstricken. Die Taliban fußen vor allem auf der ethnischen Gruppe der Paschtunen. Andere Ethnien (Hazara, Usbeken, Tadschicken) könnten sich übervorteilt fühlen. Vor allem aber ist die Frage, wie sich die Ideologie der Taliban in den verfassungsmäßigen Rahmen des Landes eingliedern ließe. Denn auf dem Papier hat Afghanistan eine der liberalsten Verfassungen der Region.
Vor allem afghanische Frauenrechtlerinnen schlagen Alarm. Sie fürchten, dass gesetzlich garantierte Frauenrechte am ehesten zum Verhandlungsgegenstand zwischen Regierung und Taliban werden könnten. In einem Offenen Brief wandten sich Frauenverbände jetzt an die Öffentlichkeit. Sie verlangen eine Einbindung in die von Männern dominierten Gespräche. Fazit: Einen Frieden auf Kosten hart erkämpfter Rechte (Persönlichkeitsrechte, Bildung, Bewegungsfreiheit, Krankenversorgung, politische Beteiligung) werde man nicht akzeptieren.