Äthiopien: Soziale Distanz ist ein Privileg weniger
In unserer neuen Serie "E-Mail aus..." berichten Österreicherinnen und Österreicher aus aller Welt davon, wie sie die Corona-Krise wahrnehmen - und wie sie zurück nach Hause kommen.
Es sind rund 20 Tage vergangen, seitdem in Äthiopien der erste Fall einer Covid-19-Infektion bestätigt wurde. Vor jedem Gebäude, das ich betrete, ist es nun Pflicht, sich die Hände zu waschen. Trotz der geringen Anzahl von aktuell 25 (Stand 31. 3. 2020) bestätigten Infektionen hat sich das öffentliche Leben in der Hauptstadt bereits stark verändert.
Die sonst mit Autos und Menschen überfüllten Straßen in der Hauptstadt Addis Abeba haben sich geleert, Schulen und Regierungsbüros sind geschlossen. Wer die Möglichkeit hat, arbeitet zu Hause. Das gilt auch für meine KollegInnen und mich.
Nur abwechselnd arbeiten wir im „Menschen-für-Menschen“-Büro, das vor dem Coronavirus ein Ort regen Austausches war. Mittlerweile ist es hier gespenstisch still. Bei allen herrscht große Angst, dass sich das Virus in Äthiopien ausbreitet. „Unser Land ist auf so etwas nicht vorbereitet“, ist ein Satz, den ich mittlerweile täglich höre.
Vom selben Teller essen
In Addis haben die Menschen erkannt, dass soziale Distanz das wichtigste Mittel ist, um die Ansteckungsrate so gering wie möglich zu halten. Jedoch ist das mit der sozialen Distanz hier so eine Sache: Es ist traditionell üblich, vom selben Teller zu essen, sich als Zeichen der Freundschaft gegenseitig zu füttern, und die Menschen leben auf engstem Raum zusammen.
Aber es wird zumindest versucht, so viel Distanz wie möglich herzustellen: Die Polizei überprüft vereinzelt, dass die Sammeltaxis nicht zu voll besetzt sind, Massenveranstaltungen sind derzeit untersagt, und das Kultur- sowie Nachtleben wurden eingestellt.
Die soziale Distanz einzuhalten, ist hier ein Privileg weniger. Dem Großteil der Menschen bleibt nichts anderes übrig, als mit den überfüllten Bussen zur Arbeit zu fahren oder auf dicht bevölkerten Märkten ihre Waren zu verkaufen. Sich zu Hause zu verbarrikadieren, ist nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung eine Option.
Viele Straßenkinder
Zudem gibt es in einer Millionenstadt wie Addis Abeba unzählige Obdachlose und Straßenkinder. Sie wird es im Härtefall am Schlimmsten treffen. So auch die Menschen im ländlichen Raum, wo immerhin 80 Prozent der Bevölkerung Äthiopiens leben.
Zwar werden in den größeren Ortschaften schon Maßnahmen getroffen, aber für die Menschen auf ihren kleinen Höfen in den abgelegenen Regionen ist das Coronavirus eine noch unwirkliche Bedrohung. Das Leben muss hier einfach weitergehen, um über die Runden zu kommen.
Die Folgen einer wachsenden Ausbreitung des Virus in Äthiopien können wir derzeit nur erahnen, aber sie könnten verheerend sein. Die aktuell (noch) geringen Fallzahlen lassen mich im Moment nur hoffen, dass es doch noch möglich sein wird, die Infektionen soweit wie möglich einzugrenzen. Hoffen ist gerade das Einzige, das wir hier tun können.
Der 29-jährige Henning Neuhaus ist zusammen mit Muluneh Tolesa für die PR-Arbeit der von Karl-Heinz Böhm gegründeten Hilfsorganisation „Menschen für Menschen“ in Äthiopien zuständig. Er lebt seit 2018 in der Hauptstadt Addis Abeba.