Meinung

Nach Euphorie kehrt in ÖVP Realismus ein

Am 18. Dezember ist Türkis-Blau ein Jahr im Amt. Schon heute, am 4. Dezember, werden sich Kanzler und Vizekanzler in einer Pressekonferenz den Medien stellen. Sie werden – eine wenig riskante Prognose – die vergangenen zwölf Monate positiv bilanzieren. Zu Recht?

Was sie auf ihre Fahnen heften können, sind die überraschend stabilen politischen Verhältnisse nach diesem Regierungswechsel. Die ÖVP hat in den Umfragen zugelegt, die FPÖ kaum verloren. Zur Erinnerung: Schwarz-Blau I scheiterte bereits nach eineinhalb Jahren an einem FPÖ-internen Aufstand. Auch die im Jahr 2006 neu gebildete SPÖ-ÖVP-Koalition flog den Österreichern bereits nach wenigen Monaten um die Ohren. Danach schleppte sich Rot-Schwarz jahrelang kraft- und lustlos dahin, was sich auf die Stimmung im Land verheerend auswirkte. Unter den weithin von Abstiegsängsten geplagten Österreichern grassierte Pessimismus, die Zustimmung zur Bundesregierung sank unter 20 Prozent, und, besonders alarmierend, die Sehnsucht nach einem starken Mann stieg an. Finanz-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise und,  nicht zu vergessen, die Terroranschläge in europäischen Städten – trugen das Ihre zur Verunsicherung vieler Menschen bei. Der alten Koalition traute man nicht mehr zu, die Dinge in den Griff zu bekommen.

Das ist der Hintergrund, vor dem die türkis-blaue Regierung nun reüssiert. Der Kanzler tut auch alles dazu, um diesen Kontrast zu pflegen. Seine Devise lautet: Nur kein Streit. Ministerratsbeschlüsse im Stakkato, vorzugsweise zu Themen, die Jahrzehnte lang liegen geblieben sind. Handeln statt Stillstand, Leadership statt Blockade sind seine damit verbundenen Botschaften.

Eine Wende in der Stimmung der Österreicher hat Kurz jedenfalls erreicht. Das Vertrauen in die Bundesregierung ist auf über 50 Prozent gestiegen, der Optimismus ist wieder größer als der Pessimismus. Das Glück einer Hochkonjunktur mit sprudelnden Steuern ist Kurz noch als Draufgabe in den Schoß gefallen.

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Die Grenze des Erträglichen

Zu den Schattenseiten dieser Koalition gehört, dass die ÖVP der Streitvermeidung mit der FPÖ mitunter ihr christliches Gewissen opfert. So etwas nagt auf Dauer. Wider die Vernunft werden Lehrlinge oder integrierte Familien abgeschoben. Die FPÖ gibt allzu oft fremdenfeindliche Politik vor und überschreitet mit rassistischer Propaganda die Grenze des Erträglichen. Mit einigem Bangen sieht man in der ÖVP der kommenden EU-Wahl entgegen: Wird Kurz die Grätsche zwischen einem EU-feindlichen FPÖ-Wahlkampf und seiner eigenen, pro-europäischen Partei hinbekommen?

Die große Anfangseuphorie über die Koalition mit der FPÖ ist in weiten Teilen der ÖVP verflogen. Aber Sehnsucht zurück nach der SPÖ gibt es schon gar keine. Davon dürfte Türkis-Blau noch länger profitieren: Es zeichnen sich weit und breit keine greifbaren Alternativen ab.

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