Im Freibad sind alle gleich nackt
Von Marco Weise
Im Sommer – oder besser gesagt im Freibad – schlägt die Stunde der Wahrheit. Während die einen stolz das zur Schau stellen, was sie sich mühsam im Fitnessstudio erarbeitet haben, präsentieren andere das Ergebnis diverser All-you-can-eat-Expeditionen. Was da auf den Liegen und Wiesen zu sehen ist, ist an – diplomatisch gesagt – Vielfalt kaum zu überbieten: groß, klein, mollig, unvorteilhaft angewachsen, schief, adonishaft, adipös, magersüchtig ...
Tja, wer sich im Bikini zeigt, Bade- gegen Anzughose oder Jeans tauscht, gewährt eben tiefe Einblicke – auch in Problemzonen. Falten und Geheimnisse, die (zum Glück) im Alltag oft im Verborgenen bleiben, werden gelüftet. Beim Hinschauen (wegschauen kann ja so schwer sein) sind mir auch die Tattoos aufgefallen. Kaum noch eine Haut, die nicht befleckt, also gepeckt ist. Vorbei sind jene Zeiten, in denen Anker, Indianerhäuptlinge und Schlangen noch etwas Besonderes, Exotisches, Wildes waren. Heute ist das Mainstream, wobei Tattoo natürlich nicht gleich Tattoo ist, versteht sich. Denn in manchen Fällen gleicht das Ergebnis einem Unfall, sieht so aus, als wäre der Tätowierer mehrfach abgerutscht ... Aber schuld am Ergebnis sind meistens die Träger selbst – warum müssen es auch Engelsflügel am Rücken sein?!
So ein Besuch im Freibad eignet sich auch perfekt für eine Bestandsaufnahme der Gefühlslage innerhalb einer Gesellschaft. Dafür muss man dann gar nicht viel machen, außer herumliegen, beobachten und zuhören – und sich ab und zu einschmieren. Nach den unlängst in einem Wiener Bad erhobenen Verhaltensmustern, kann ich jetzt besser verstehen, warum sich einige nur dann impfen lassen wollen, wenn es bei einem Grillhenderl mit Pommes und Bier oder im Shoppingcenter passiert. Zum Glück heißt es bald: Gemma Lugner – zum Corona-Impfen!