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Vedran Džihić: "Migration muss geregelt, nicht panisch bekämpft werden"

Vor über 31 Jahren fand Vedran Džihić Zuflucht in Österreich. Kurz davor war der damals 16-Jährige mit seiner Familie aus seiner vom Krieg heimgesuchten bosnisch-herzegowinischen Heimat geflohen. Anstatt im anvisierten Schweden landeten die Džihićs im beschaulichen Traiskirchen, dessen Aufnahmezentrum für Flüchtende noch wenige freie Plätze bieten konnte. 

Heute ist der heimatlose Teenager von damals einer der renommiertesten Wissenschafter des Landes, in dem er seine neue Heimat gefunden hat. Zudem ist Vedran Džihić ein Forscher, Lektor an verschiedenen europäischen Universitäten, Berater verschiedener politischer Institutionen, Initiator verschiedener politischer Initiativen - und Buchautor. In seinem neuesten Buch schreibt er über seine eigene Fluchterfahrung, den Neubeginn in Österreich und die Zugehörigkeit. Themen, die mehr denn je aktuell zu sein scheinen.

KURIER: Ihr neues Buch heißt "Ankommen". Sind Sie angekommen? 

Vedran Džihić: Das ist das große Dilemma, das sich durch das gesamte Buch zieht. Es gibt so viele Dimensionen von diesem "Ankommen". Jene, die für mich wichtig war: Wie kann sich jemand wie ich, der durch den Krieg seiner Heimat entrissen wurde, in einem anderen Land seine zweite Heimat aufbauen. Zwei Fragen sind für diesen Prozess des Ankommens wichtig:

  1. Wie viel Kraft, Stärke und Willen bringt man selbst auf, um sich in einer neuen Gesellschaft durchzuringen, Deutsch zu lernen, einen Arbeitsplatz zu finden, eine Ausbildung abzuschließen?
  2. Wie geht die Aufnahmegesellschaft damit um, dass es den "anderen" Menschen gibt, der auch Mitbürger bzw. Mitbürgerinnen sein möchte, auch Verantwortung übernehmen und ihre Zukunft in der nun neuen Heimat aktiv gestalten will? 
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Welche Voraussetzungen schafft die österreichische Gesellschaft, um dieses "Ankommen" möglich zu machen? 

Das beginnt bei ganz grundlegenden Dingen wie dem Bildungs- und Sozialsystem, der (Aufenthalts-)Gesetzgebung bis hin zu den Fragen im sozialen Bereich wie etwa der Gleichstellung. Neben diesen konkreten Rahmenbedingungen, die man braucht, um individuell wirklich ankommen zu können, braucht es auch eine positive Grundstimmung in der Gesellschaft.  

Gerade in der Vorwahlzeit scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein ... 

Die Migration wurde in der Vorwahlzeit zu einem sehr starken, dominanten Thema gemacht. Ich bin überhaupt der Meinung, dass sich dieses Narrativ von der Gefahr, die durch die Migrant:innen ausgeht, seit 2015 sehr stark verselbstständigt bzw. festgesetzt hat und toxischer geworden ist. Die rechten Parteien haben dieses Thema traditionell sehr stark bespielt. Dann kam es aber zu einer recht deutlichen Übernahme dieser rechten Diskurse in den politischen Mainstream, vor allem von der politischen Mitte. In Österreich war das in der Zeit von Sebastian Kurz zuerst die Volkspartei, die mit dem berüchtigten Schließen der Westbalkanroute bei der Wählerschaft zu punkten versucht hat. Das hat sich nahtlos auch in der grün-türkisen Regierungszeit fortgesetzt. Entstanden ist in Folge eine "Migrationspanik", die Rechte und Rechtsextreme stärker gemacht hat.

Gibt es eine Berechtigung dafür, dass Migration das vorherrschende Thema in dieser Vorwahlzeit ist?

Faktisch und realpolitisch bzw. -gesellschaftlich betrachtet, gibt es keine reale Berechtigung dafür. Es gibt Probleme in diesem Bereich, auch Zwischenfälle. Parallel dazu gibt es aber auch einen Anstieg der rechtsextremistischen Gewalttaten in Österreich. Abseits davon gibt es eine ganze Reihe von zentralen gesellschaftlichen Themen, mit denen wir zu kämpfen haben, die aber in der derzeitigen Wahlkampfauseinandersetzung nicht so dominieren: ob das mit Mängeln gespickte Bildungssystem, das marode Pensionssystem oder die Umweltfrage. Aus dem Gesamtkonzert von gesellschaftlichen Dilemmata und Problemen ragt das Migrationsthema eigentlich unverhältnismäßig heraus.  

Wollen Sie sagen, dass Österreich kein Migrationsproblem hat?

Aus meiner Sicht: Nein! Österreich ist nicht erst seit gestern eine superdiverse Einwanderungsgesellschaft. Geschichtlich betrachtet hatten wir bereits in der k. u. k.-Monarchie eine sehr starke Durchmischung. Spätestens ab der Gastarbeiter-Migration ab den 1950er und -60er Jahren und den Flüchtlingswellen aus dem Ostblock hat sich das fortgesetzt. Die Statistiken belegen es eindeutig: 1,6 Millionen der in Österreich lebenden Menschen haben einen Migrationshintergrund. Diese Menschen sind längst Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, übernehmen Verantwortung in allen Gesellschaftsbereichen, bereichern diese Gesellschaft.

Auch die 2015 nach Österreich Zugewanderten?

Großteils, ja. Wenn man sich etwa die Beschäftigungsquote der in den Jahren 2015/16 gekommenen syrischen Flüchtlinge anschaut, dann stellt man fest, dass sie wirklich sehr gut ist - auch im Vergleich mit der Durchschnittsbevölkerung. Die Integration ist in vielen Bereichen sehr gut gelungen, vor allem am Arbeitsmarkt. Schwierigkeiten gibt es im Bildungsbereich - und bei der Erziehung von einzelnen jungen Männern, die in den Extremismus abgedriftet sind. An dieser Stelle muss ich aber betonen, dass dieser islamische Extremismus, der zuvor noch durch den Islamischen Staat auch hier Wurzeln geschlagen hatte, in Österreich ein Minderheitenprogramm ist - und keinesfalls die Mehrheitshaltung der muslimischen Bevölkerung.

Sie selbst sind Anfang der 1990er aus ihrer bosnischen Heimat nach Österreich geflüchtet. Glauben Sie, dass es die Ex-Jugoslawen damals einfacher hatten als die Flüchtenden im Jahr 2015? 

Eine Frage ist immer, wie man gesamtgesellschaftlich oder politisch eine bestimmte Flüchtlingsbewegung auffasst und wie die Gesellschaft darauf reagiert. In den Neunzigern hat man zwar den Ausgrenzungsdiskurs von Jörg Haider gehabt, aber im Großen und Ganzen hat die österreichische Bevölkerung große Hilfsbereitschaft gezeigt. Dank der Bosnien-De-facto-Unterstützungsaktion wurde uns die Integration erleichtert. Diese ist aber auch leichter gelungen, da die Region wirklich sehr nahe und ein Teil der österreichischen Geschichte ist. Zudem hat man aufgrund der Gastarbeitermigration eine intakte Diaspora-Infrastruktur im Land gehabt.

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Also alles, was die Flüchtenden 2015 nicht hatten ...

Vom Ausmaß her, von der Anzahl der Flüchtlinge, war das vergleichbar mit der bosnischen bzw. ex-jugoslawischen Fluchtbewegung. Das war also nicht die absolute Ausnahmesituation, der "Untergang" Österreichs, wie manche befürchteten. Wir wurden nicht "überschwemmt" von Flüchtenden, wie es manche prophezeit hatten. Bloß der Diskurs hat sich verschoben. Was aber entschieden anders war als in den 1990ern: die Zusammensetzung dieser Menschen, die herkamen. Es waren viel mehr Junge oder jüngere Männer, die meisten mit dem islamischen Hintergrund. Hier kam zum Vorschein, dass in Österreich doch ein struktureller Rassismus und Islamophobie vorhanden sind.

Es stellt sich immer die Frage danach, was die Zugewanderten tun müssen, um sich hier zu integrieren. Was aber können wir, hier Lebenden, tun, um ihnen die Integration zu erleichtern?

Hier spielt die Empathie, das Einfühlungsvermögen in das, was die anderen sind, eine große Rolle. Empathie zeigen ist etwas, was jeder Mensch machen kann. Eine demokratische Gesellschaft basiert auf Freundschaft, Anerkennung, Diskutier- und Debattierfreude. Die "Anderen" sind nicht per se die Bösen und die Schlechten. Vielmehr: Es gibt keine "Anderen", wir sind alle Menschen.

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Gibt es aus Ihrer Sicht einen Punkt für eine Gesellschaft, ein Land, an dem man sagt: "Es tut uns leid, aber wir können bei besten Willen niemanden mehr aufnehmen?"

In Deutschland und Österreich werden diese Debatten geführt und Ähnliches behauptet. Zugleich haben wir ganz offensichtlich eine Situation, in der wir die Arbeitskraftmigration in den nächsten Jahren nicht nur in diesem Ausmaß, sondern in einem noch stärkeren Ausmaß brauchen werden, um unsere Wirtschafts-, Pflege- und Medizinsysteme aufrechtzuerhalten. Wir reden von der Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Das ist ein Paradox: Man braucht Migrantinnen und Migranten, lehnt sie zugleich ab. 

Was ist die Lösung?

Die Migration soll geregelt werden und regulär ablaufen - unter der Kontrolle des Rechtsstaates. Wenn man Panik erzeugt, trägt das nicht dazu bei, sondern nur zur Erzeugung von neuen Sündenböcken. Wir befinden uns in einem Dilemma, das eigentlich gar keines ist. Die Realität, die wir in Europa haben, sind moderne, diverse Einwanderungsgesellschaften. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zu monoethnischen Gesellschaften zurückdrehen. Es wäre machbar nur mit Gewalt - Stichwort Remigration. Aber das wäre dann außerhalb des demokratischen Verfassungsbogens und Rechtsstaates. Das hat nichts mehr mit unseren demokratischen und freien Gesellschaften zu tun.

Vedran Džihić wurde 1976 in Prijedor, Bosnien-Herzegowina, geboren. 1993 flieht er mit seiner Familie aus der Heimat. Auf Umwegen landen sie im Flüchtlingslager Traiskirchen, in dem sie vom Jänner bis September 1993 wohnen. 

Heute ist der promovierte Politikwissenschaftler Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und Lektor an der Universität Wien. Er ist weiters non-resident Senior Fellow am Center for Transatlantic Relations, School of Advanced International Studies, John Hopkins University, Washington D.C.

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Demokratietheorie und Demokratisierungsprozesse, Europäische Integration, Konfliktforschung, Zivilgesellschaft und Protestbewegungen, Außenpolitik und Nationalismus. Sein regionaler Fokus liegt auf Ost- und Südosteuropa mit besonderem Schwerpunkt auf dem Balkan und auf den USA.

Er hat zu diesen Themengebieten zahlreiche Bücher, Artikel und Analysen verfasst und kommentiert ebenfalls regelmäßig in internationalen und nationalen Medien.