Leben/Reise

Die Stadt, die sich ständig neu erfindet

Was macht die norwegische Hauptstadt so schwer greifbar? Das werden sich viele Besucher fragen, die aus Wien, Stockholm, Dresden oder einer anderen europäischen Stadt kommen, die über die Jahrhunderte organisch gewachsen ist. Oslo ist ästhetisch ansprechend und hat ein herrliches maritimes Flair, aber aus der Struktur wird man auf den ersten Blick nicht schlau. Eine historische Burg, eine typische Flaniermeile, ein Dom und spektakuläre Architektur am Wasser – sind damit nicht alle Elemente vorhanden, die eine Metropole ausmachen?

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Nein, eines fehlt: die Altstadt. Es gibt keinen historischen Kern, von dem aus man alles andere intuitiv erlaufen könnte. Stattdessen ist Oslo – geschichtlich bedingt – fragmentiert und damit ein echtes Unikum. Darüber könnte man sich beschweren – oder es als Chance sehen, eine Stadt kennenzulernen, die sich seit tausend Jahren immer wieder neu erfindet.

Brand und Handschuh

Wie und wann Oslo genau gegründet wurde – das werden wir nie genau wissen. Ihren Anfang nahm die Stadt etwa zwei Kilometer östlich vom heutigen Zentrum. Ausgrabungen deuten darauf hin, dass dort bereits um das Jahr 1000 Menschen nach christlichem Ritus bestattet wurden. Deswegen hat Oslo im Jahr 2000 sein tausendjähriges Jubiläum gefeiert. Vom Namen „Gamlebyen“ (dt. Altstadt) darf man sich nicht täuschen lassen: Es ist ein Verweis auf die Vergangenheit und nicht etwa der Name eines intakten Viertels. 

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Mehr als die Ruinen eines Klosters und einer Kirche gibt es dort nicht zu sehen. Das liegt an einem Unglück vor vierhundert Jahren: Im Sommer 1624 wurde das alte Oslo durch einen Stadtbrand binnen drei Tagen fast vollständig zerstört. Und damit endete das erste Kapitel von Oslo.

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Damals war Norwegen in einer Union mit Dänemark. König Christian IV. (1577– 1648) ließ die Stadt an einem anderen Standort und mit dem Namen Christiania neu aufbauen: Im Schutz der Burg Akershus entstand das von rechtwinklig verlaufenden Straßen geprägte Viertel Kvadraturen. Heute zeigt es sich als ruhiger Stadtteil, in dem nicht besonders viel los ist. Anschauen sollte man sich aber den zentralen Platz Christiania Torv: Ein markanter Springbrunnen mit einer Skulptur in Form eines Handschuhs erinnert daran, dass der König dort gestanden und gesagt haben soll: „Hier soll meine Stadt liegen.“

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Im Jahr 1814 löste sich Norwegen von Dänemark. Das Land wurde zwar noch nicht unabhängig, sondern gehörte weitere einundneunzig Jahre zu Schweden, doch es geschah etwas mit der nationalen Identität. Es war keine dänische Provinz mehr, sondern ein gleichberechtigter Partner des skandinavischen Nachbarlands mit einer eigenen Verfassung. Durch diese Veränderung kam Christiania als Hauptstadt wieder größere Bedeutung zu, obwohl sie mit rund 15.000 Einwohnern noch klein war – Kopenhagen hatte damals siebenmal so viele Einwohner.

Hauptstadt entsteht

Es mussten also die klassischen repräsentativen Bauten einer Metropole her: Nach und nach entstanden im 19. Jahrhundert Monumentalbauten wie das königliche Schloss, das Parlament und das Nationaltheater. Sie werden von der Prachtstraße Karl Johans gate zusammengehalten und ergeben das dritte Kapitel in der Osloer Stadtgeschichte.

Oslo 4.0

Und nun – weitere zwei Jahrhunderte später – ist Oslo (so heißt die Stadt wieder seit 1925) erneut im Wandel. Seit dem Jahr 2000 verfolgt man unter dem Namen „Fjord City“ eine umfassende Flächensanierung. Wo früher Autobahnen und Industriegebiete die Innenstadt vom Oslofjord abschnitten, hat sich die Stadt zum Wasser hin geöffnet. Die meisten Exemplare der modernen Architektur, für die Oslo in jüngerer Vergangenheit bekannt geworden ist, verdanken wir diesem Stadtentwicklungsprojekt: die Oper, den Barcode-Komplex und das erst 2021 eröffnete Munch-Museum.

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Dieses Oslo 4.0 steht vor allem im Zeichen der Nachhaltigkeit: Stadtplaner, viele Unternehmen und die Politik arbeiten darauf hin, die städtischen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 gegenüber 2009 um 95 Prozent zu reduzieren. Die Bemühungen wurden von der Europäischen Kommission belohnt, die Oslo 2019 zur Umwelthauptstadt ernannte. Oslo sieht sich als Metropole der Zukunft – und braucht dafür gar keine klassische Altstadt.

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