Nur geträumt: Wie man den Nachtfilm bewusst steuern kann
Von Gabriele Kuhn
Vor vielen Jahren hatte ich einen Albtraum, wo es um Leben und Tod ging. Ich war auf der Flucht und stand auf einem felsigen Abgrund vor dem Meer. In Todesangst hörte ich plötzlich eine Stimme, die sagte: Das ist ein Traum. Dein Traum! Du kannst wegfliegen, wenn du möchtest. Tu es einfach. Ich habe meine Arme ausgestreckt und hob wie ein Vogel ab“, beschreibt die 63-jährige Winzerin und Künstlerin Nancy Lee Seymann ihren ersten Klartraum.
Seither kommt es immer wieder vor, dass ihr beim Schlummern bewusst wird: alles nur geträumt! Nicht nur: Sie übernimmt manchmal sogar die Kontrolle über die Arbeit der Nacht. Ein Ausnahmefall? Esoterischer Quatsch?
Klar und bewusst
Mehr als die Hälfte aller Erwachsenen haben zumindest einmal in ihrem Leben schon einen Klartraum erlebt, zeigte eine Meta-Studie rund um den britischen Forscher David Saunders von der University of Northampton. Schnell im Freundeskreis und auf Social Media nachgefragt: „Wer hatte schon einmal einen Klartraum?“ Erstaunlich, wie viele darauf antworteten und schrieben: „Ich!“
Für jene, die mit „Hä, wie bitte?“ reagierten: Klarträume, auch luzide Träume genannt, sind Träume, in denen man völlige Klarheit darüber besitzt, dass man träumt und nach eigenem Entschluss handelnd in das Traumgeschehen eingreift. So lautet die Definition des deutschen Traumforschers und Psychologen Paul Tholey, der sich wissenschaftlich intensiv mit dem Phänomen beschäftigte und den Begriff „Klartraum“ prägte.
Für den Klartraum charakteristisch sind zwei Aspekte: Bewusstheit und Orientierung. Heißt: Man ist sich klar, dass man träumt und kann sich im Traum orientieren“, sagt Brigitte Holzinger vom Institut für Bewusstseins- und Traumforschung. Sie ist von der Heilkraft des Klartraums überzeugt, besonders für Menschen, die oft an Albträumen leiden. Nancy Lee Seymann ist froh, so träumen zu können: „Es gibt mir Vertrauen in meine Intuition und Herzensintelligenz.“
Erlernbar oder nicht?
Aber was bringt’s – und ist Klarträumen erlernbar? Manchen Menschen scheint die Fähigkeit in die Wiege gelegt: „Ich habe es nie gelernt, es war einfach da“, erzählt die 45-jährige Fotografin Martina Draper. Sie führt das darauf zurück, dass sie von Natur aus eher eine „Träumerin“ ist, auch untertags. Den nächtlichen Klartraum mag sie nur bedingt: „Es ist zwar lustig, Träume steuern zu können, aber es fehlt der Zauber des normalen Traums.“
Albträume überwinden
Die Bilanzbuchhalterin Susanne Meyer, 55, kann das Kommando im Traum ebenfalls übernehmen: „Erst zufällig, dann habe ich unter Anleitung einer Therapeutin gelernt, sie bewusst herbeizuführen.“ Meyer litt unter Albträumen: „Träume, bei denen ich in Gefahr war, aber auch Gewaltträume. Sie haben mich erschreckt und mir Angst gemacht – vor dem Einschlafen, vor mir selber.“
Auslöser dafür war eine schwere Depression und die damit verbundene Einnahme von Psychopharmaka. Das luzide Träumen half ihr, die Ängste zu reduzieren. „Es war für mich sehr wichtig, weil ich in den Träumen die Herrschaft übernehmen konnte. Das nimmt einem die Angst, auch beim Einschlafen, weil ich wusste, ich kann mir selbst helfen.“
Meyer erlebt vielfältige Klarträume: In der einfachen Variante bekommt sie einfach mit, dass sie träumt. „Man merkt an Details, dass es sich um einen Traum handeln muss – die Vorhänge haben die falsche Farbe, Person A spricht mit der Stimme von Person B etc.“ Als Geübte kann sie die Handlung beeinflussen. „Man ist die Verfolgte, aber man dreht sich um und tritt den Verfolger in den Unterleib.“
Und das ist aus ihrer Sicht die Königsklasse des Klartraums: „Wenn man sich vor dem Einschlafen vornimmt, was man träumen möchte – und es gelingt.“ Auf diese Weise kann sie viele Erlebnisse verarbeiten, etwa den Tod ihrer pflegebedürftigen Eltern. „Ich sehe darin große Chancen, Probleme zu lösen, an denen man sonst erfolglos kiefelt.“
Auch die 47-jährige Bankangestellte Karin Tesar hält Klarträume für ein wertvolles Werkzeug. Sie hat eine Ausbildung zur Mentaltrainerin gemacht und stieß irgendwann zufällig auf das Thema. Daraufhin besorgte sie sich Einsteiger-Lektüre: „Oneironaut. Das Klartraum-Praxishandbuch“ von Simon Rausch. „Ich habe die darin beschriebenen Reality-Check-Übungen gemacht und konnte tatsächlich einen Klartraum erleben.“
Was ihr noch nicht gelungen ist: den Fortgang des Traums selbst zu steuern. Das stört Tesar aber nicht, weil sie davon überzeugt ist, dass ihr Unterbewusstsein das freie Träumen braucht, um Informationen besser zu verarbeiten. „Ich bin mir nicht sicher, ob das für mich mit Klarträumen möglich wäre. Wahrscheinlich würde ich auf Dauer versuchen, mich im Traum vor schwierigen Situationen zu drücken. Es kommt darauf an, warum und wie man etwas für sich verwendet. Wenn man sich vor seinen Problemen in eine Scheinwelt flüchten möchte, indem man Klarträume bewusst herbeiführt, dann ist das nicht hilfreich.“
Erlebnisse verarbeiten
Sabina Witt-Pambalk, 54, Inhaberin einer Hauspersonalagentur, kann sogar fortgesetzt luzid träumen: „Reale und irreale Szenen, aber auch Wunschträume beim Weiterträumen. Das geht manchmal über Tage und kann eine Belastung sein.“ Aus ihrer Sicht führt diese Traumform manchmal zu überraschenden Antworten – etwa, wenn man „mit verstorbenen geliebten Personen Unterhaltungen führen kann. Oder man Szenen durchspielt, um deren Ausgang zu erfahren.“ Geht es doch beim luziden Träumen auch darum, schwierige Erlebnisse bewusst zu verarbeiten und Handlungsalternativen zu entwickeln.
Manche Menschen nützen luzide Träume, um motorische Fähigkeiten zu üben – und im Wachzustand fortzusetzen. Sportler könnten auf diese Weise „im Schlaf“ trainieren, Beweise für eine Wirkung gibt es jedoch nicht. Manche Klarträumer erfüllen sich im Traum Wünsche, die im echten Leben nicht realisierbar sind, zum Beispiel sexuelle Abenteuer oder eine Reise zum Mond.
Nancy Lee Seymann ist jedenfalls überzeugt, dass Träume sehr machtvoll sind und ungeahnte Möglichkeiten offenbaren. Als Klarträumerin stellt sie sich vor dem Schlafengehen manchmal eine Frage oder bittet um Rat. „Oft bekomme ich dann Botschaften und Wegweiser oder sehe konkrete Farben für meine Kunst.“