Kultur

Neue Welten in alten Büchern

Neuübersetzungen großer Klassiker stehen hoch im Kurs.

Von Iwan Gontscharows Faulenzer-Bibel „Oblomow“ gibt es mittlerweile die achte deutsche Version. Bei Hanser erscheint im September Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“, zuletzt wurde James Fenimore Coopers „Der letzte Mohikaner“ neu ins Deutsche übertragen. Suhrkamp verlegte 2012 die Neuübersetzung von Virginia Woolfs „Orlando“, Manesse ließ 2012 „Ein Portrait des Künstlers als junger Mann“ von James Joyce neu übersetzen, Rowohlt Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ ...

Wozu das alles?

„Jede Übersetzung ist stark mit dem Kontext ihrer Zeit verknüpft – und das muss auch bei Übersetzungen, die heute selbst schon als Klassiker gelten und fast den Status eines Originals genießen, überhaupt nicht derselbe Kontext sein, wie beim tatsächlichen Original. An vielen Klassikern, die Dutzende Male übersetzt wurden, kann man sehen, dass ein Originaltext eine Unzahl an ,richtigen‘ Übersetzungen erlaubt – diese Breite der Auslegung und sprachlichen Deutung ist ja nicht zuletzt ein Qualitätsmerkmal von Literatur“, erklärt die Übersetzungsforscherin Maria Handler.

Der Hanser Verlag begann Ende der 1990er-Jahre mit Alessandro Manzonis „Die Verlobten“: Damals ging es darum, einen Klassiker der italienischen Literatur einem deutschsprachigen Publikum besser bekannt zu machen. Die Neuübersetzung wurde zum Überraschungserfolg: 20.000 Stück wurden verkauft. Auf Manzoni folgte Stendhal, ein weiterer großer Autor, der außerhalb des universitären Bereichs immer weniger gelesen wurde.

Kein Anbiedern

„Die Werke selbst altern nicht, die Übersetzungen sehr wohl“, erklärt Christina Knecht vom Hanser Verlag. „Wesentlich ist, die Balance zu finden, die sich nicht dem Gegenwärtigen anbiedert. Der heutige Leser soll verstehen, ohne dass die Zeitgenossenschaft verloren geht.“

Die ideale zeitgemäße Übersetzung kann neue Welten erschließen. Das betrifft besonders die sogenannte Jugendliteratur, die in manchen Fällen jahrelang nur in verstümmelten Ausgaben erhältlich war. Die kompletten Neuübersetzungen eröffnen neue Sichtweisen: „Gerade beim letzten Mohikaner merkt man, dass da viel mehr drinsteckt“, sagt Knecht.

Als „Madame Bovary“ 2012 von Elisabeth Edl neu neu übersetzt wurde (Hanser), jubelte das deutschen Feuilleton. Die Zeit frohlockte ob der „Freuden der Genauigkeit“ in Edls Übersetzung und entdeckte allerhand Neues im Schicksal der Bauerntochter Emma; Elisabeth Edl nannte im Nachwort sämtliche bisherigen Übersetzungen im Vergleich zu Flaubert nachgerade „niederschmetternd“.

Schuld und Sühne

Im besten Fall eröffnen sich neue Perspektiven auf scheinbar Bekanntes.

Svetlana Geier (1923–2010) widmete sechzig Jahre ihres Lebens Dostojewskij, Tolstoij, Bulgakow, Puschkin und Gogol. Als sie ihre Neuübersetzung der großen Dostojewskij-Romane (Fischer Verlag) abgeschlossen hatte, schwärmten die Kritiker von der Musikalität ihrer Sprache. Geyer entwickelte Dostojewskij weiter und gab „Schuld und Sühne“ den Titel „Verbrechen und Strafe“. „Schuld und Sühne“ sei ihr zu moralisierend gewesen.

Der Erfolg gibt den Verlagen recht. Neuübersetzungen von Klassikern verkaufen sich gut. Spitzenreiter bei Hanser ist „Anna Karenina“ mit mehr als 30.000 Exemplaren. Das klingt nicht aufregend, aber anders als bei den tagesaktuellen Bestsellern, die oft rasch nach oben schießen (und genau so schnell wieder nach unten), verkaufen sich die Klassiker-Neuübersetzungen gleichbleibend gut.

Neuer Zugang

Der Wiener Literaturwissenschaftler Alfred Noe vom Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft nennt zwei Gründe für den Erfolg: „Viele kennen die Weltliteratur nicht mehr aus der Schule und suchen Zugang über Übersetzungen, häufig angeregt durch Verfilmungen.“

Zweitens hat die Sache natürlich einen wirtschaftlichen Hintergrund: „Die kostenlose Verfügbarkeit der alten Übersetzungen zwingt die Verlage, neue Übersetzungen zu veröffentlichen, wenn sie damit noch etwas verdienen wollen.“

Übersetzer. Sie gehören zu den wichtigsten Kulturschaffenden der Welt: Ohne literarische Übersetzer gäbe es keine Weltliteratur. Denn nur die wenigsten können fremdsprachige Bücher im Original lesen. Die Arbeitsbedingungen literarischer Übersetzter sind allerdings kläglich: Sie sind einsam, gefangen (zwischen Textvorgabe und Verlagswünschen) und oft unterirdisch schlecht bezahlt.

Wolfgang Tschöke, Literaturwissenschaftler und Übersetzer – unter anderem von Cyrano de Bergerac , Voltaire und Émile Zola – arbeitet derzeit an der Neuübersetzung der fünf „Gargantua“-Romane von François Rabelais, die bald im Berliner Galiani Verlag herauskommen sollen.

Der Riese

François Rabelais (1493/’94 bis 1553) ist der bedeutendste Prosa-Autor der französischen Renaissance. Sein grotesker, fantastischer, zotiger Romanzyklus rund um den Riesen Gargantua und seinen Sohn Pantagruel gilt als besonders schwer zu übersetzen.

Warum tut sich Tschöke das an? „Rabelais ist die größte Herausforderung überhaupt für einen Übersetzer aus dem Französischen. Seit 1575, seit Johann Fischarts erster Übertragung ins Deutsche, gab es unter bierernsten Lexikografen, Verschwörungsallegorikern, klassenkämpferischen Volkstümlern, Folkloristen und Entschlüsselungsfundamentalisten auch immer wieder fröhliche Narren aus der Übersetzerzunft, die sich heiter in die Wortstrudeleien Rabelais’ stürzten und manchmal auch im Malstrom seiner Sprachkunst und Worterfindungen untergingen. Aber ohne sie und ihre Sisyphusarbeit wäre dieses gigantische und geniale Werk der Weltliteratur schon längst nicht mehr im Bewusstsein des deutschsprachigen Lesepublikums gegenwärtig.“

Tschöke weiß selbst nicht mehr, wie lange er schon an seiner Übersetzung arbeitet: „Eine solche Arbeit bildet Jahresringe.“

Die Mühe lohnt sich, denn: „Rabelais hatte seit fast 500 Jahren ununterbrochen Leser. Das Geniale der Gargantua-Romane besteht darin, dass sie mit verschiedenen Bedeutungsebenen gelesen werden können. Mit wechselnden Zeitläufen des literarischen Geschmacks wird immer ein anderes Lesemodell in den Vordergrund treten.“

Und: „Über allem aber liegt natürlich das riesige, alles verwandelnde und durcheinanderwirbelnde Lachen Rabelais’, mit dem er seine Wortwelten erbaut und uns überlässt.“

Weniger zum Lachen sind die wirtschaftlichen Seiten von Wolfgang Tschökes Tätigkeit:

„Das Verhältnis von kultureller Bedeutung literarischer Übersetzungsarbeit und ihrer Vergütung ist derartig skandalös, dass mir dazu nichts mehr einfällt.“