Menschendämmerung: So ist "Orest" an der Wiener Staatsoper
Von Georg Leyrer
Kundry, die Allfrauenfigur in Wagners „Parsifal“, schreit, weil sie nach dem gnädigen Todesschlaf wieder in dieser Welt erwachen muss.
Klytämnestras Schrei hingegen gebiert für jemanden anderen eine neue Welt: Für Orest, der sie, seine Mutter, ermordete – und sich danach, den Todesschrei für immer im Ohr, in der echten Welt nicht mehr wiederfinden kann.
Er wird zum Wahnsinnsgetriebenen – und dieser Wahnsinn wird von ganz oben befeuert: Apollo gebietet Orest, auch noch Helena zu töten, und wenn geht auch noch deren Tochter Hermione dazu. Die Götter müssen verrückt sein.
Tief
„Orest“, die zeitgenössische Oper von Manfred Trojahn, zeigt ihren Titelhelden als zerstörten Menschen, als Schmerzensmann und Schuldverzweifler. Es geht um die tiefsten Abgründe der Existenz, die die antiken Mythen – hier dem von Euripides nachempfunden – mit solcher Wonne ausloten.
Das drängt, so denkt man sich auch nach dem Anhören der gerade mal 75 Minuten langen, aufführungsdankbaren Musik, doch zu Höherem: Diesem Klagegeschrei des Daseins muss man sich mit künstlerisch großkalibriger Waffe stellen!
Den Premieren-Regisseur der Wiener Staatsoper aber drängte es zum Kammerspiel, somit zur Opernfahrt im ersten Gang, mit angezogener Handbremse.
Es geht zwar um Krieg und Schuld und Leid und Mord und die Qual der Existenz. Größer wird es nicht! Doch in der am Sonntag erstmals gezeigten Neuproduktion darf sich die Bühnenmaschinerie der Staatsoper für die nächste Repertoirevorstellung ausruhen.
Türen – ins Innere des Orest – gehen auf der schiefgelegten Bühne auf und zu.
Na ja. Einzig ein hoffentlich freiwillig komisches Sesserl – jener Art, wie es sonst Menschen im bunten Skigewand irgendwelche Berghänge emporträgt – lässt Regisseur Marco Arturo Marelli sich von oben herabsenken. Einmal mit dem Gott, der von oben herabkommt, einmal mit Helena, die von unten hinaufsteigt.
Eine Actionszene, wie sie nur noch auf der Opernbühne gezeigt werden kann, später resümiert man: Hier wurde, bei aller psychologisch raffinierten Abarbeitung der Sänger aneinander, eine Chance vertan. Nämlich in ein staatsoperntaugliches zeitgenössisches Werk so viel Schmalz – jeder Art! – zu investieren wie in die häufiger gespielten Klassiker.
Berührend
Schade! Denn der „Orest“ erfüllt vieles, das man sich oft wünschen würde: Es geht um alles, das aber auf einen heutigen Zeitrahmen komprimiert und mit einer Musik, die intensiv und abwechslungsreich ist und keine unüberwindbaren Hürden errichtet. Als Orest (Thomas Johannes Mayer) dann, vom dionysischen Gott verführt, die Helena wirklich abmurkst, steht die Musik wie selbst erschrocken minutenlang auf einem zarten Basston. Das berührt, wie auch viele andere Stellen, unmittelbar. Es gibt Echos von Strauss (Trojahn bezieht sich explizit auf dessen „Elektra“) und Berg und Schönberg; es gibt aber auch das, was aus diesen entstanden ist, nämlich filmhafte, bildhafte Musik.
Ein paar Ausschnitte aus der Produktion in Zürich:
Das Orchester unter Michael Boder serviert dies in Wien hervorragend, sängerfreundlich, kantig, knackig.
Davon getragen, überzeugen vor allem die Frauen: Audrey Luna als Horrorfilmvision von Hermione singt in höchsten Ton- und Ausdruckshöhen.
Evelyn Herlitzius als Elektra, rasend vor Emotion, ist hervorragend.
Und Helena kommt zwar als Karikatur einer Karikatur auf die Bühne, irgendwo zwischen Marilyn Monroe und Vorstadtweib, Laura Aikin gibt der Rolle aber Tiefe.
Die Männer können da nicht ganz mithalten. Mayer geht mit vollem Druck in die Vorstellung – als von der Mord-Erinnerung getriebener Orest greift er zu mutigen Wahnsinnsgesten. Doch im Lauf des Abends büßt er etwas von der Anfangsintensität ein, die Daniel Johansson (Apollo/Dionysos) und Thomas Ebenstein (Menelaos) gleich von Beginn an fehlt.
Und befreiend
Doch mit diesen allen erlebt man in 75 Minuten eine Besinnungsvorlage, die sich um Schuld und Zwang und Leid dreht – und dann, ganz am Schluss, um Freiheit. Denn Orest weigert sich, anders als bei Euripides, noch Hermione zu töten. Er tut dies mit einem Lachen, das er Nietzsche – man erinnert sich: Gott ist tot! – verdankt und, der Kreis schließt sich, auf eine Mitleidserkenntnis wie im Parsifal folgt. Er verstößt die Götter, es folgt seine persönliche Menschendämmerung.
Und auch wenn in der Staatsoper das Zeitgenössische traditionell eher an der Auslastungsstatistik knabbert: „Orest“ lohnt sich.