Kultur

Literaturnobelpreis 2020: Frauen führen die Wettquoten an

Die Schwedische Akademie gibt heute, Donnerstag, um 13 Uhr den Träger bzw. die Trägerin des Literaturnobelpreises 2020 bekannt. Wer sich heuer über die renommierte Auszeichnung freuen kann, ist noch streng geheim. Und so wird mit Spannung erwartet, wer auf Peter Handke, dessen Auszeichnung im Vorjahr für Kritik sorgte, folgt.

Geht es nach den Wettquoten, haben drei Nicht-Europäer die Nase vorn: Laut dem britischen Vergleichsportal Nicerodds hat die aus Guadeloupe stammende Autorin Maryse Conde die besten Chancen, dicht gefolgt von ihrer russischen Kollegin Ljudmila Ulitzkaja und dem Japaner Haruki Murakami. Alle drei waren auch in den vergangenen Jahren immer wieder ganz oben in den Wettquoten aufgetaucht.

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Die Kanadierin Margaret Atwood und der Kenianer Ngugi Wa Thiong'o komplettieren die Top 5. Eine wirkliche Überraschung findet sich aber auch auf den Plätzen abseits der ersten Reihe nicht, wo sich Anne Carson, Javier Marias und Ko Un ex aequo tummeln. Auf den hinteren Plätzen werden Michel Houellebecq, Milan Kundera und Stephen King Chancen eingeräumt.

Mayröcker gar nicht so weit hinten

Immerhin auf Platz 17 findet sich derzeit die österreichische Lyrikerin Friederike Mayröcker. Da aber im Vorjahr bereits ein heimischer Schriftsteller an der Reihe war, sollte man sich in dieser Hinsicht nicht zu viel erwarten. Überhaupt wäre ein Preisträger oder eine Preisträgerin aus Europa in diesem Jahr eine Überraschung.

Verliehen wird die mit heuer mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (rund 950.000 Euro) dotierte Auszeichnung dann mit den übrigen Nobelpreisen am 10. Dezember in Stockholm. Das Datum ist als Todestag des schwedischen Dynamiterfinders und Preisstifters Alfred Nobel fix gesetzt für die Preisverleihung. Mit der Doppelbekanntgabe der Preisträger nach dem #MeToo-Skandal von 2019 gab es im Vorjahr gleich zwei Preisträger: Olga Tokarczuk wurde für 2018 ausgezeichnet, Peter Handke für 2019.

Was folgt auf Skandal und Skandalisierung?

Es hätte im Vorjahr alles so entspannt laufen können nach dem großen Skandal: Wäre die Schwedische Akademie bei der Doppelvergabe mit zwei grundsoliden Preisträgern auf Nummer sicher gegangen, dann wäre die schwere Krise mit all ihren internen Grabenkämpfen vermutlich ein für alle Mal beendet gewesen. 

Entscheidung für Handke "ausgestreckter Mittelfinger"

"International betrachtet ist das eine mindestens mittelgroße Krise gewesen", sagt der Kulturchef der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, Björn Wiman, über Handkes Auszeichnung. Ein Jahr nach dem Skandal um das mittlerweile ausgetretene Akademiemitglied Katarina Frostenson und ihren Ehemann Jean-Claude Arnault sei die Akademie von der einen Krise in die andere gestolpert, indem der Preis an "einen ungeheuer kontroversen Schriftsteller" gegangen sei. Wiman glaubt, dass das vonseiten der Akademie letztlich ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung ihrer Kritiker und der Medien gewesen sei.

Eine kurze Rückblende: Der Skandal bei der Vergabe-Institution des Literaturnobelpreises war bereits im November 2017 im Zuge der #MeToo-Enthüllungen ins Laufen gekommen, nachdem 18 Frauen öffentlich Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung und Übergriffen gegen Arnault vorgebracht hatten. Wegen Vergewaltigung wurde er Ende 2018 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Zudem warf die Akademie Frostenson und Arnault vor, die Preisträger vorab ausgeplaudert und so gegen ihre Geheimhaltungspflicht verstoßen zu haben. Das Resultat des Ganzen: 2018 wurde zunächst kein Literaturnobelpreis vergeben.

Sturm der Kritik

Mit der Doppelbekanntgabe der Preisträger für 2018 und 2019 sollte im vergangenen Oktober dann alles gut werden. Die Auszeichnung der Polin Tokarczuk wurde auch allgemein gelobt - die des Österreichers Handke löste dagegen einen Sturm der Kritik und Proteste in Stockholm und darüber hinaus aus. Handke hatte sich im Jugoslawien-Konflikt stark mit Serbien solidarisiert und nach Ansicht von Kritikern die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder geleugnet. 2006 hielt er bei der Beerdigung des sechs Jahre zuvor gestürzten serbischen Führers Slobodan Milosevic gar eine Rede.

"Sichere Wahl" erwartet

Mittlerweile hat sich die Lage bei der Schwedischen Akademie beruhigt. Dass sie sich nun bei der Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers ein neues Problem schaffen wird, damit rechnet Wiman nicht. "Ich glaube, dass sie eine sichere Wahl treffen werden", sagte er vorab der Deutschen Presse-Agentur in Skandinavien. 197 nominierte Kandidaten kommen dafür in diesem Jahr infrage. Laut Akademie sind darunter 37, die zum ersten Mal nominiert worden sind.

Wer auf der Liste steht und wer am Ende den prestigeträchtigsten Literaturpreis der Erde mitsamt einem Preisgeld von diesmal zehn Millionen Kronen (rund 950.000 Euro) erhalten wird, darüber lässt sich wie üblich nur spekulieren: Die Namen werden traditionell für 50 Jahre geheimgehalten. Eine Antwort auf die Frage nach dem Preisträger wird es also erst geben, wenn der Ständige Sekretär Mats Malm am Donnerstag um Punkt 13.00 Uhr im prunkvollen Börshuset in der Stockholmer Altstadt vor die Presse treten wird. Coronabedingt werden diesmal deutlich weniger Journalisten vor Ort dabei sein als sonst.

Sympathie für Pynchon

An potenziellen Preisträgern mangelt es wie so oft nicht. "Man müsste eigentlich immer viele Nobelpreise vergeben", sagt der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck. Er persönlich hält zunächst vor allem einen für preisverdächtig. "Ich vertrete seit vielen Jahren die Ansicht, dass Thomas Pynchon den Literaturnobelpreis nun wirklich verdient hätte", sagte Scheck der dpa. Mit Werken wie "Gravity's Rainbow" (Die Enden der Parabel) und "Against the Day" (Gegen den Tag) sei Pynchon einer der großen Innovatoren der Prosa des vergangenen und des laufenden Jahrhunderts gewesen.

Allerdings schätzt Scheck die Erfolgsaussichten für einen weißen US-Amerikaner als sehr gering ein. Auch an einen Preisträger aus Deutschland glaubt er nicht - obwohl er einen Favoriten zur Hand hätte. "Die Nobelpreis-Jury würde eine kluge Entscheidung treffen, wenn sie Hans Magnus Enzensberger küren würde", sagt er. Enzensberger habe sich immer wieder neu erfunden, eine "quecksilbrige Intelligenz" und dabei auch das Lachen nicht vergessen. "Und wenn es Martin Walser würde, dann würde ich mich auch freuen, sehr sogar", ergänzt er.

Atwood immer wieder genannt

Scheck hat noch drei weitere Namen im Angebot, deren Werk eine Ehrung rechtfertigen würde: Zum einen nennt er den Somalier Nuruddin Farah, der viel mehr als nur ein Chronist des Bürgerkriegs in Somalia sei, sondern zu den ganz großen Schriftstellern zähle. Verdient habe es auch der US-Autor Richard Ford, der ihn von Buch zu Buch immer mehr überzeuge und psychologische Raffinesse mit stilistischer Brillanz verbinde. Und dann wäre da noch Margaret Atwood, die schon seit längerem immer wieder für den Nobelpreis gehandelt wird.

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"Sie ist eine Autorin, die verschiedene Konzepte in einer Art literarischer Kernfusion miteinander verschmilzt", sagt Scheck. Dazu zähle ein überaus starker Naturbezug, zudem sei die Kanadierin ebenso brillante Lyrikerin wie Romanautorin. Und als wäre das nicht genug, finde sich bei ihr auch ein "wunderbar humoristischer Feminismus".

Wohl kein Preisträger aus Europa

Auch "DN"-Kulturchef Wiman sieht in Atwood eine gute Wahl. Seine Hauptfavoritin ist aber eine andere. "Ich denke, es sollte Jamaica Kincaid werden", sagt er. "Sie ist eine brillante Schriftstellerin und auch eine intellektuelle Person - das ist etwas, was Handke nicht verkörpert." Kincaid stammt von der Karibik-Insel Antigua und lebt in den USA. Unabhängig von allen Spekulationen ist sich Wiman nach der Wahl einer Polin und eines Österreichers im Vorjahr aber vor allem in einem sicher: "Es wird diesmal kein Preisträger aus Europa."