Kultur

Horror-Selfies in Egon Schieles Schatten: Adrian Ghenie in der Albertina

„Wer ein Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. Das ist etwas anderes, als nur ein Bild von sich selbst – ein Selbstporträt – zu machen.“ So beginnt der aufschlussreiche Essay des Kulturwissenschafters Wolfgang Ullrich, der sich 2019 daran machte, die seltsame Welt von Duckfaces, Influencer-Posen und mit digitalen Tricks "verschönerten" Bildern zu erforschen („Selfies“, Wagenbach Verlag, 13 €). 

Womit wir bei Egon Schiele wären. Die berühmten Gemälde und Zeichnungen, in denen sich der österreichische Expressionist (1890-1918)  körperlich wie psychisch entblößte, nennt man zwar meist „Selbstporträts“, doch es besteht wenig Zweifel daran, dass auch Schiele sich selbst „zum Bild machte“, sich mittels Selbstverrenkungen zu einer Art Zeichen am Papier stilisierte, mit Mitteln der Farbe und des Zeichenstifts seine Geschlechteridentität verunklärte und in Rollen schlüpfte. Die technologische Entwicklung war eben dergestalt, dass er dies oft vor einem Spiegel im Atelier tat, und es ist gewiss ein amüsantes Gedankenexperiment, sich den Hitzkopf im Handy-Zeitalter vorzustellen. 

Für die Ausstellung „Schattenbilder“ in der Albertina ist nun also Adrian Ghenie in die Schlucht zwischen den Bildkulturen gesprungen – nicht mit dem Handy, wohlgemerkt, sondern altmodisch mit Pinsel, Kohlestift, Farbe und Leinwand. Der 1977 in Rumänien geborene Künstler, vom Kunstmarkt in hohe Preissphären katapultiert, sollte sich jenen Bildern Egon Schieles widmen, die heute als verloren oder unauffindbar gelten – es gibt, bedingt durch Krieg und die NS-Verfolgung ehemaliger Sammler, viele davon. 

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Was die Kamera mit uns macht

Das Ergebnis ist eine Bildserie, die Schieles Bildwelt auf eine ebenso virtuose wie unheimliche Weise mit der heutigen kurzschließt – denn Ghenie ist es weniger an einer kunsthistorisch fundierten Schiele-Rekonstruktion gelegen als daran, zu ergründen, was die Bildmaschinen der Gegenwart mit uns machen. Wenn er einer Figur in dem Werk „Die Selbstseher“ (Original von 1910 verschollen, erhaltene Zweitfassung im Leopold Museum), in dem Schiele sein eigenes Abbild schon rätselhaft verdoppelte, noch ein Handy in die Hand drückt, ist das schon visuelle Schizophrenie: Gibt es hier noch eine Person, und wenn ja, wie viele?

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Sezierkurs der Malerei

Wenn es darum geht, Uneindeutiges und Mehrdeutiges greifbar zu machen, ist die Malerei anderen Medien noch immer überlegen, und Ghenie betreibt das Zersplittern und Zerteilen in einer Konsequenz, die ihm Vergleiche mit Francis Bacon einbrachte, sich aber auch gut ins österreichische Malerei-Sezierkurs-Curriculum von Kokoschka bis Frohner und Ringel einreiht. 

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Die medizinischen Anklänge werden in der Albertina-Schau noch bewusst dadurch verstärkt, dass der Boden der Halle mit spiegelnden Nirosta-Platten ausgelegt wurde. Wo diese an die Wand treffen, wurden Rinnen verlegt, die an einen Pathologie-Saal oder ein Leichenschauhaus gemahnen sollen. 

Doch es trieft kein Blut aus diesen Gemälden. Ghenies Figuren sind Hybride – fleischliche und technische Wesen zugleich, oft bewusst monströs und drastisch dargestellt. Abseits kunsthistorischer Verwandtschaften (Roberto Matta oder Bruno Gironcoli kommen in den Sinn) ruft Ghenie damit das Unbehagen wach, das sonst Sci-Fi- und Horror-Filme von David Cronenbergs „New Flesh“ über Ridley Scotts „Alien“ bis zum Netflix-Retroschocker „Stranger Things“ trägt: Unsere Körper gehören nicht mehr uns, wir sind nicht mehr wir selbst, irgendetwas hat sich eingeschlichen, vielleicht das eigene Handy.

Von Schiele zu "Stranger Things"

Man kann kritisieren, dass die ganze Serie schon fast ein bisschen zu schlau und geplant daherkommt – und dass die   von einer privaten Stiftung mitfinanzierte Museumsschau offensichtlich als Startrampe für eine spätere Marktkarriere der Bilder dient. Es ändert aber nichts an dem Umstand, dass hier virtuose Malerei mit einem Konzept zusammenkommt, das viel Denkstoff  zur Geschichte und Gegenwart bietet.