In Thomas Bernhards Ohrensesselausstellung
Als vor dreißig Jahren Thomas Bernhard starb, gab es noch einen Eisernen Vorhang, die Sowjetunion, eine Tschechoslowakei, ein Jugoslawien und zwei durch eine Mauer getrennte Deutschländer. Dafür war Österreich ein souveräner Staat, wenn auch mit einem Präsidenten, der wegen ungelöster Vergangenheit sechs Jahre lang zu Hause bleiben musste.
Europa war ein ferner Kontinent. Das Kürzel EU kannte niemand; wenn, dann verwendete man meine Initialen EG. Aber auch die anderen Kontinente waren ferne Kontinente. Von Tschetschenen, Minaretten, Imamen wusste man nichts. Syrien und Libyen konnte niemand richtig schreiben.
Im Gesamtwerk von Thomas Bernhard kommt nicht eine einzige Dönerbude vor. Das World Trade Center gab es zwar, war aber ohne Bedeutung. Naturgemäß kommt das Wort Wellness nicht vor, aber auch die Worte Worst-Case-Szenario nicht. Als Thomas Bernhard starb, gab es weder Google noch Wikipedia, weder eMails noch Homepages, weder Chatrooms noch Internet. Damals redeten die Menschen noch persönlich aneinander vorbei. Und auch der poetische Kapitalismus existierte noch nicht. Thomas Bernhard war kaum einmal auf der Bestsellerliste. Schlecht war die Welt aber schon damals. Außer „Lebensmenschen“ gab es seinerzeit übrigens auch noch „Geistesmenschen“, hauptsächlich naturgemäß aber doch „Voralpenschwachdenker“ und vor allem „Grenzdebile“. Das waren Zeiten! Heute weiß ja kaum noch jemand, was ein Grenzdebiler überhaupt ist. Dabei gibt es heute zwar weniger Grenzen, aber mehr Grenzdebile.
In seinem Testament hatte Thomas Bernhard verfügt, dass nichts aus seinem Nachlass veröffentlicht werden darf – und die Nachlassverwalter haben sich nach anfänglichem Zögern immer ungenierter über das testamentarische Verbot hinweggesetzt. Jede Einmischung dieses Österreichs, oder wie immer es sich kennzeichnet, ihn und sein Werk betreffend, hat sich Bernhard rigoros verbeten. Schwer zu sagen, ob dieser Teil des Testaments beherzigt worden ist. Österreich kennzeichnet sich zwar noch so, hat aber mit Österreich nicht mehr viel zu tun.
Vandalenakt
Vor ein paar Jahren gab es eine Kurzmeldung in der Zeitung, das schmiedeeiserne Grabkreuz auf Thomas Bernhards letzter, vielleicht auch erster Ruhestätte am Grinzinger Friedhof – ganz in der Nähe von Doderer übrigens – sei einem Vandalenakt zum Opfer gefallen. Der Bruder bestätigte damals der Zeitung, man wolle das Grab voraussichtlich nicht restaurieren. Es habe alles keinen Sinn.
Über ein Vierteljahrhundert nach meinem ersten Versuch, den berühmten, damals aber noch vor der Öffentlichkeit verschlossenen und im Nebel verborgenen Vierkanthof in Obernathal ober Ohlsdorf neben Obertalham hinter den sieben Wäldern zwischen den sieben Feldern zu finden, der zweite Versuch: Mittlerweile würde jeder Grenzdebile den Vierkanthof finden, denn die Voralpenschwachdenker aller Herren Länder sind herzlich willkommen, und es gibt nun ein riesiges Schild mit Bernhardweg und Parkleitsystem gleich bei der Ortstafel von Ohlsdorf, vor dem Ohlsdorfer Ortsfriedhof und Goofy’s Imbiß auf der anderen Straßenseite (an den Bestbieter zu verkaufen).
Bollwerk und Festung ist der Vierkanthof also keines und keine mehr. Die Tore stehen weit offen. Gleich nach dem Eingang links ein Merchandising-Shop – der ehemalige Saustall; aber früher waren keine Säue im Saustall und im Shop noch kein Kitsch. Eine freundliche ältere Frau, deren Katze vor vierzehn Tagen vom Nachbarn überfahren worden war, unterbricht ihr Schwätzchen mit Peter Fabjans Gattin, einer Französin (der Bruder selbst ist leider gerade vor fünf Minuten gefahren, hatte heute Vormittag schon eine Führung für achtzig Personen und wäre sicher der kompetentere Führer gewesen als die Frau, die sich jetzt dazu anschickt).
Fahrradkuhstall
Nach circa einer Minute stellt sich heraus, dass ich eigentlich viel, viel mehr über Thomas Bernhard (und das Thomas Bernhard Betreffende von Walter Pilars Lesungsstörung bis zur Portugallesereise) weiß als sie, und genau genommen sollte ich Lehrgeld kassieren, nicht sie Eintritt. Die meisten Details kennt man ohnehin von Bildbänden: der weiß getünchte, jetzt verflieste Fahrradkuhstall (derzeit eine „Heldenplatz“-Zeitungsartikel-Sonderschau, die Artikel habe ich alle selber), der Innenhof (der Mercedes verkauft; „man kann ja nicht alles aufheben“), die Tenne (der rote Traktor mit dem Schild „Thomas Bernhard, Bauer zu Nathal“ steht noch da) ist zu einem sehr schönen, etwas stickigen Veranstaltungssaal umgebaut worden, seit Neuestem sogar mit einem Lift für Boris.
(Ich bin von meiner außerordentlich guten Laune selbst überrascht.) Am Abrisskalender in der Küche nach wie vor der 12. Februar, der Todestag von Thomas Bernhard („nach meinem Tod darf nicht mehr das Geringste verändert werden“). Ich erzähle der Frau die Geschichte mit Peter Alexander. (Der maximale Philantrop und der maximale Misanthrop, der positivste Österreicher und der negativste Österreicher sind beide am selben Tag gestorben, und sie liegen beide am selben Friedhof begraben.)
Was man kennt: Die Stiefelsammlung. Zwei sehr schmale, steile Treppen, ohne Steigeisen gerade für einen mit grenzwertig großem Herz kaum zu schaffen.
Alt ja, Meister nein
Und oben: Dreißig Zimmer. Dreißig praktisch gleiche Zimmer, eines so sinnlos wie das andere; ein unwohnliches Wohnzimmer nach dem anderen, niedrig. Sitzbank (falls überhaupt), Tisch, zwei Stühle, Kommode, fertig. Da ein Landschaftsgemälde, dort das Porträt irgendeines Öltypen, alt ja, Meister nein, einmal Schopenhauer (aber die Standardfotografie, sozusagen das Passbild), einmal Voltaire, einmal Josef II. Ein Radio, ein Plattenspieler, ein Telefunken-Fernsehgerät. Durchgangszimmer. Durchgangszimmer. Durchgangszimmer. Ein Wartezimmer führt ins andere, es ist im Grund wie am Frauenplan, nur statt Goethes antiken Gipswasserköpfen schöne, moosgrüne Kachelöfen, die auf filigranen Stahlbeinchen ruhen, die könnte Dalì gemalt haben. (Darin wurde die Post verbrannt). Dreißig rustikale Filzhüte, auf jedem Huthaken einer. Ein Wetterfleck (nicht einmal die Erzählung „Der Wetterfleck“ kannte die Frau auch nur dem Titel nach, jetzt im Nachhinein denke ich mir doch: Geld zurück! Aber ich hatte so blendende Laune… die blendendste!) Durch eines der Gucklöcher sieht man hinter den Feldern zwischen den Bäumen ein Stückchen Autobahn. Nicht wirklich ein Schreibtisch. Nicht wirklich ein Schreibplatz. Und so gut wie keine Bücher – von den eigenen abgesehen.
Die Bibliothek ist der kleineste Raum des Gebäudes! Klogroß. Die bulgarischen und die portugiesischen Übersetzungen: Wer hat die nicht! Aber man muss doch seine Feinde kennen! Was für ein Ignorant! Was für ein Autist!
Dreißig Wartezimmer!
In welchem Wartezimmer warte ich heute? Dreißig Wartezimmer! Kein Hausarzt. Wozu? Mein Freund A. hat geschrieben: „Es ist egal, wo man wartet.“ Naja, egal. Das Schlafzimmer. Das Bad. Er verwendete Pitralon. Das wollte ich gar nicht wissen. Und nicht riechen. Er ließ eine ganze Badezimmerfront verspiegeln. „Er war seiner Zeit voraus!“ Ja, eh. Bleiben an wirklichen Neuigkeiten, an neuem Wissen: Er hatte ein Gewehr! Es hängt an der Vorhangstange gleich neben dem großen Schlafzimmerfenster, das in den Innenhof hinausgeht (er, der selten eine Resolution unterschrieben hat, hat aber 72 gegen das Österreichische Bundesheer unterschrieben!)
Karl Ignaz Hennetmayr, der Immobilienhändler, ist gestorben, 98, gerade eben erst, vor zwei, drei Wochen oder Monaten. Es gibt – auch ohne Hennetmayr – immer wieder neue Thomas-Bernhard-Literatur, nämlich Johann Maxwald „Mein eigentümlicher Nachbar Thomas Bernhard“ Verlag Austria Nostra(!!) – ausgestellt vor dem Hof in einem rustikalen Schaukasten. „Vieles von dem, was sich in der langen Zeit unserer engen Nachbarschaft ereignet hat, Lustiges und weniger Lustiges, wird hier dargelegt. (Die überfahrene Katze wird aber nicht beschrieben.)
Das Büchlein ist erhältlich im Bauernhof hier oder beim Verfasser Johann Maxwald, Obernathal 7, gelbes Haus um die Ecke (mit Balkon). Preis 15 Euro. Über 3000 Stück wurden bislang verkauft und der Erlös davon erging an karitative Vereine im Innland und in der dritten Welt.“
Innland im Inland
3000 Stück: Da erblasst die Literaturszene vor Neid! Und wenn schon nicht enge Freundschaft, dann „enge Nachbarschaft“: Was es nicht alles gibt! Das Innland im Inland – das wiederum ist schon fast Peter Handke!
Für Nichtleser daneben: Edelbrände vom Haumerhof – Karl Maxwalds original Nussschnaps, Obernathal 1. So schließt sich der Kreis.
Ah, bevor ich’s vergesse: Thomas Bernhard hatte eine Putzfrau, die putzte auch nach Thomas Bernhards Tod unbeeindruckt weiter. Sie ist die einzige weit und breit, die noch kein Buch über Thomas Bernhard geschrieben hat. Dabei böte sich förmlich an: „Putzen. Eine Säuberung.“
„Während Zdrenka immer dienstags und donnerstags in Aichmühl bei Pichl bei Wels bei Brandstetter putzte, dienstags Küche und Keller, donnerstags das Kleinhäuslermuseum, putzte Cvetka montags und mittwochs in Obernathal bei Ohlsdorf bei Gmunden bei Bernhard die Ohlsdorfer Ohrensesselausstellung, die dreißig Wartezimmer einerseits – eine völlig sinnlose Putzprozession als Putzprozess ins Nichts und in die Vergeblichkeit hinein, die kleinste Schriftstellerhausbibliothek des ganzen Landes und der Republik andererseits, womit sie in fünf Minuten fertig war…“
Egyd Gstättner, 1962 in Klagenfurt geboren, ist Schriftsteller und Publizist. Zuletzt erschienen: „Die Familie des Teufels“