Ihr Kabinetttheater war ein Salon: Julia Reichert gestorben
Von Thomas Trenkler
An sich sind die absurden wie größenwahnsinnigen Mikrodramen von Wolfgang Bauer aus 1964 mit zum Teil gewaltigen Szenerien (darunter „Die Schlacht an der Beresina“) unaufführbar. Aber Julia Reichert machte es möglich – mit ihrem Figurentheater samt gemalten Prospekten im Miniaturformat.
1994 reaktivierte die Puppenmacherin und Schriftstellerin, 1950 in München geboren, eine ehemalige Fabrikshalle zwischen Porzellangasse und Liechtensteinpark in Wien als ihr Kabinetttheater: Unter einem Dach befanden sich Werkstatt, Bühne, Küche und Wohnung. Die Prinzipalin führte ihr Refugium als Salon: Immerzu lud sie Künstler und Autoren ein, viele waren ihre Freude, darunter H. C. Artmann und Rosa Pock.
Gegründet hatte die Bibliothekarin ihr Theater aber schon Jahre zuvor, 1989, in Graz – zusammen mit Christoph Widauer, dem damaligen Intendanten der Styriarte, der ihr Lebenspartner wurde. Der Liebe wegen war Julia Reichert 1983 in die heimliche Hauptstadt der Literatur übersiedelt. Alsbald Teil der Szene rund um den visionären Verleger Max Droschl fertigte sie 1986 Masken nach Figurinen von Günter Brus zu Gerhard Roths Theaterstück „Erinnerungen an die Menschheit“ an, das damals im Schauspielhaus uraufgeführt wurde.
Und dann erfüllte sie sich ihren Lebenstraum: Sie brachte kleine Stücke unter anderem von Daniil Charms, ihrem Lieblingsautor, als Figuren- und Objekttheater zur Aufführung. Irgendwann, nach ein paar Jahren in Wien, scheiterte die Beziehung zum wesentlich jüngeren Widauer. Die Tochter des Schauspielers Willy Reichert führte ihr Kabinetttheater allein weiter: Sie brachte, oft mit Selbstausbeutung, lange Zeit ohne namhafte Subventionen, aber mit Humor und Zuversicht, viele Minidramen, die meisten als Auftragswerke, heraus – unter anderem von Peter Ahorner, Thomas Arzt, Lucas Cejpek, Franz Josef Czernin, Gundi Feyrer, Werner Kofler, Margret Kreidl, Ferdinand Schmatz und Gerhard Rühm.
Eine ihrer ersten Produktionen wurde zum Evergreen, Jahr für Jahr im Advent zur Aufführung gebracht: das dadaistische „Krippenspiel“ von Hugo Ball. Nach dem immerzu frenetischen Applaus gab es für jede Besucherin und jeden Besucher einen Bratapfel – und Weihnachten konnte beginnen. Heuer wird Julia Reichert keine mehr servieren können: Am 29. Oktober 2024 starb die Prinzipalin des Kabinetttheaters nach schwerer Krankheit in Wien.
Auf Wunsch von Julia Reichert geht der Theaterbetrieb aber weiter: 2025 kommt "Romulus der Große" von Friedrich Dürrenmatt heraus.