Kultur

Berliner Philharmoniker: Neuer Chefdirigent bitte warten

Der Ort des musikalischen Konklaves hätte kaum symbolträchtiger sein können. In der Jesus-Christus-Kirche im noblen Berliner Villenvorort Dahlem sollten die 124 stimmberechtigten Mitglieder der Berliner Philharmoniker am Montag einen Nachfolger für den scheidenden Chefdirigenten Sir Simon Rattle küren. In dieser Kirche hatte einst Karajan Plattenaufnahmen mit diesem Orchester gemacht, weil er sie für ihre besondere Akustik sehr schätzte. Diesmal dürfte es aber doch einige Misstöne gegeben haben.

Bereits um 10 Uhr trafen einander die Damen und Herren Musiker zur Wahl, wer ab 2018 die Geschicke des Top-Klangkörpers lenken sollte. Für 14 Uhr war die Bekanntgabe des Ergebnisses anberaumt worden – nichts. Dann um 16 Uhr – wieder nichts.

Mehr als elf Stunden

Stunde um Stunde zogen sich die Beratungen, bis schließlich, knapp vor 22 Uhr, auf der Homepage des Orchesters die lapidare Meldung publiziert wurde: Kein Chefdirigent gefunden. Das grenzt an eine Blamage. Mehr als elf Stunden hatten die Debatten gedauert. Orchestervorstand Peter Riegelbauer gab schließlich bekannt: Innerhalb eines Jahres werde man sich wieder treffen, um über die Kandidaten abzustimmen. Bis dahin solle intern diskutiert werden. In der Klassikbranche herrscht also noch eine andere Zeitrechnung.

Was ebenfalls aus der Sitzung drang: 123 gaben insgesamt ihre Stimmen ab. Und es kam zu mehreren Wahlgängen. Der Rest ist Schweigen.

Was bedeutet das nun? Vermutlich, dass es einen Richtungsstreit innerhalb des Orchesters gab bzw. gibt. Große Kreise dürften Christian Thielemann, den Leiter der Sächsischen Staatskapelle Dresden, favorisieren – dieser hat aber im Orchester auch viele Gegner, weil er einigen als zu konservativ erscheint. Vertreter der jüngeren Generation, etwa der 34-jährige Gustavo Dudamel (Chef des Los Angeles Philharmonic Orchestra), der 37-jährige Andris Nelsons (Chefdirigent in Boston) oder der 40jährige Yannick Nezet-Seguin (Leiter des Rotterdamer Orchesters) waren ebenso wenig mehrheitsfähig.

Grundmisere der Klassik

Andere wie etwa Mariss Jansons (72) hatten sich selbst aus dem Spiel genommen – der wohl beste Kandidat für Berlin hatte drei Tage vor der Entscheidung seine Vertragsverlängerung beim Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks bekannt gegeben. Andere wiederum hatten sich im Dementieren geübt. Die Nicht-Entscheidung könnte aber auch bedeuten, dass der auf einer Short-List bestgereihte Kandidat dem Orchester eine Absage erteilt hatte. Jedenfalls zeigt die Berliner Situation eine Grundmisere der Klassik schonungslos auf: Viele Topdirigenten sind schon in einem recht hohen Alter und werden darob nicht mehr mit Innovationsfreude assoziiert. Und bei der jungen Generation gelten einige zwar als Shooting-Stars, haben das aber bisher nur im PR-Bereich und weniger auf dem Konzertpodium unter Beweis gestellt.

Wie könnte es nun weitergehen? Die Vertagung deutet darauf hin, dass eine Mehrheit für Thielemann kaum zu finden ist. Das heißt, dass ein Kompromisskandidat ab 2018 zum Zug kommen dürfte. Dieser könnte Riccardo Chailly (62-jähriger Musikchef der Mailänder Scala) heißen. Er gilt in Berlin als sehr angesehen. Oder doch Daniel Barenboim (72). Der hatte zwar zuletzt im KURIER ein Interesse an diesem Job bestritten, soll aber in Berlin durchaus große Präsenz in dieser Angelegenheit gezeigt haben.

Daniel Barenboim, der große Berlin-Kenner, tauchte am Dienstag spontan bei der Präsentation des Fritz-Kreisler-Buches, herausgegeben von Clemens Hellsberg und Oliver Rathkolb, auf. Als er vom KURIER gefragt wurde, wie er die Nicht-Entscheidung der Berliner Philharmoniker kommentiere, sagte er nur: "Sie müssen wissen, was sie tun." Wissen sie das auch wirklich?

Tags zuvor hatten sich die 124 Musikerinnen und Musiker des Eliteorchesters in einer fast zwölfstündigen Sitzung nicht auf einen Nachfolger von Sir Simon Rattle als Chefdirigent ab 2018 einigen können. Nun ist freilich nicht bekannt, was hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde (in Wien hätte es sich längst herumgesprochen). Aber offenkundig ist, dass es im Orchester einen Richtungsstreit gibt, dass der logische Mann, Christian Thielemann, zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig ist, und dass auch die Vertreter der jüngeren Generation zu stark polarisieren.

Das Scheitern der Berliner ist jedenfalls symptomatisch dafür, was Kent Nagano zuletzt so klar wie wenige zuvor benannte: eine Klassikkrise. Alle Institutionen suchen neue Wege, sind sich aber über die Transportmittel nicht im Klaren. Die verdienstvolle Generation 70+ gilt nicht mehr als innovativ genug. Und jüngere Dirigenten sind allzu oft PR-Sternschnuppen. Die Ratlosigkeit reicht weit über Berlin hinaus – und Qualität allein in der Welt des Wirrwarrs nicht mehr aus.