Kultur

Auch mit 84 kann man noch entdeckt werden

Auf Bildern sehen sie wie Schwestern aus. Und auch, wer ihre Romane liest, erkennt Familienähnlichkeit. Es sind gut gebaute, routiniert erzählte Generationengeschichten, die Politik und Weltgeschehen nur am Rande streifen. Vergnüglich zu lesen und doch mit viel mit Tiefe ausgestattet.

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Die Rede ist von der Schriftstellerinnenfamilie Wolitzer. Voriges Jahr startete die in den USA gefeierte Meg Wolitzer (Bild) mit ihrem Roman "Die Interessanten" (Dumont) im deutschen Sprachraum durch. Es ist die Coming-of-Age-Geschichte einer New Yorker Clique von Jugendlichen, vom Haschischwolken durchzogenen Feriencamp bis zum Krebstod eines Protagonisten. Der berührende Freundschafts-Entwicklungsroman der 1959 in Brooklyn geborenen Autorin wurde auch bei uns zum literarischen Sommerhit 2014.

Zurück ins Leben

Nun ist ihre Mutter dran: Hilma Wolitzer, 1930 ebenfalls in Brooklyn geboren, bringt demnächst ihren ersten Roman auf Deutsch heraus. Die Autorin und Uni-Professorin für Creative Writing hat in den USA neun Romane veröffentlicht, darunter vier Jugendbücher. Mit dem Roman "Charmanter Mann aus Erstbesitz", der dieser Tage bei Deuticke erscheint, gibt sie ihr Debüt im deutschen Sprachraum. Und es ist zu hoffen, dass dieses Buch trotz des abschreckenden Titels seine Leser finden wird. "An available Man", also "Ein verfügbarer Mann", heißt es im Original. Es erzählt die Geschichte des 62-jährigen Biologie-Lehrers Edward, der versucht, nach dem Tod seiner Frau wieder ins Leben zurück zufinden. Die Partnervermittlungsbemühungen seiner Stiefkinder sind zwar lustig zu lesen, aber die Vorstadtidylle dieses Erzähluniversums wird von einem leise-melancholischen Grundton bestimmt: Edward verbringt viel Zeit damit, die Blusen seiner verstorbenen Frau zu bügeln, um sich ihr verbunden zu fühlen. Sie hat ihm einen altersschwachen Hund hinterlassen, der es wohl nicht mehr lange machen machen wird.

Und Edwards Stiefkinder bemühen sich zwar um ihn, sind aber selbst nicht ganz mit sich im Reinen: Sein Stiefsohn Nick und dessen Frau hoffen vergebens auf Nachwuchs, und Nicks Schwester Julie lässt sich vorzugsweise auf demütigende Beziehungen ein.

Unterhaltsam und zugleich lebensklug: Vielleicht liegt es auch an Hilma Wolitzers behutsamem Weg zur Schriftstellerkarriere, dass sie diesen Spagat so traumwandlerisch bewältigt – er hat ihr viel Zeit zum Lernen gelassen: Erste Gedichte schrieb sie mit neun, den ersten Roman veröffentlichte sie mit 44. Dazwischen wurden Kinder groß gezogen, Eltern begraben und Lebensunterhalt verdient.

Hilma Wolitzer, die als Lehrerin unter anderem den späteren Bestsellerautor Michael Cunningham ("The Hours") unterrichtete, ist mit 84 Jahren eine Newcomerin im deutschen Sprachraum. Es ist Zeit, sie zu entdecken.