Wissen/Gesundheit

Weibliche Sexualität: Ein Tabu bricht auf

Ob der „Lemon Song“ von Led Zeppelin, „Diced Pineapples“ von Rick Ross oder „Kiwi“ von Maroon 5: War im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von Obst bei Rock und Pop die Rede, war damit selten gesunde Ernährung gemeint, sondern Sex – und der „Pfirsich“ ist dabei die Angebetete oder Stellvertreter für bestimmte Körperteile.

Geschälte Grapefruit

Die vielfach gezeigte und diskutierte halbierte, geschälte Grapefruit für das weibliche Geschlecht erfährt eine neue Konnotation. Im gesellschaftlichen Themenkomplex äußert diese sich mit einer Enttabuisierung der Geschlechtsorgane. Für Frauen bedeutet diese neue Ebene der sexuellen Revolution ein neues Verhältnis zum eigenen Geschlecht – im doppelten Sinn.

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Von der Musik ist der intime Fokus jüngst auch in die bildende Kunst gewandert: Die Künstlerin Gloria Dimmel fertigt in ihrer Privatwohnung in Wien Abdrücke von Vulven an.

Abdrücke von Vulven

Dazu hat sie die für Furore sorgende „Great Wall of Vagina“ des Briten Jamie McCartney inspiriert. McCartneys Mauer ist jedoch falsch betitelt, denn die Abdrücke zeigen die Vulva, den sichtbaren Teil des weiblichen Geschlechts. Die Unterscheidung von Vagina, Vulva, Klitoris und Co. ist oftmals nicht einmal allen Frauen klar.

Umfrage unter Frauen

Daran konnten auch die bisherigen Versuche der Enttabuisierung wie etwa „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche und „Sex and the City“ wenig ändern.

Die deutsche Psychologin Sandra Konrad beschäftigte sich für ihr Buch „Das beherrschte Geschlecht“ mit dieser Thematik. Unter anderem fragt sie darin verschiedene Frauen, ob sie ihr Geschlecht mögen. Die Antworten fielen meist negativ aus.

Anders als Männer werden Frauen nicht dahingehend sozialisiert, stolz auf ihr Genital zu sein, so die Autorin. Bezeichnungen wie „bestes Stück“ und „Schamlippen“ verdeutlichen dies.

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Zurück zur Anatomie: Die Vulva gilt als äußeres Geschlechtsorgan und umfasst kleine und große Labrien (Schamlippen), Venushügel, Scheidenvorhof, Scheideneingang und Klitoris. Häufig wird das weibliche Lustorgan auch als „Kitzler“ bezeichnet. Es ist aber gar nicht so klein, wie es sein Name vermuten lässt. Von der äußeren Spitze geht ein schlauchförmiges Schwellkörpergewebe ins Innere des Körpers ab, das in bis zu zehn Zentimeter langen Fortsätzen endet.

Sexuelle Erregung

Sexuelle Erregung lässt das Organ anschwellen. Dies ist identisch mit der Erektion des Mannes. Männliche und weibliche Sexualorgane sind sich in ihrem Ausmaß gar nicht unähnlich. Die Teile liegen bei Frauen eben innen, wohingegen sie bei Männern außen sind. Und die Klitoris ist viel empfindlicher: Dort sammeln sich rund 8000 Nervenendungen. In der Eichel des Penis nur 4000. An keinem Ort am Körper gibt es eine derart hohe Nervendichte.

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Die Vagina hingegen ist vergleichsweise unempfindlich. Das zeigt zum Beispiel auch die Tatsache, dass Frauen beim Tragen eines Tampons nicht im Zustand permanenter Erregung sind.

Fundiertes Wissen

Nach der Vagina, die biologisch den Muskelschlauch bezeichnet, der zur Gebärmutter führt, haben zwei Medizinerinnen aus Norwegen ihr Aufklärungswerk benannt.

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Viva la Vagina!“ von Ellen Støkken Dahl und Nina Brochmann hat ein erklärtes Ziel: „Fundiertes Wissen über die Funktionsweise des Körpers wird es Frauen erleichtern, in einem geschützten Rahmen eigene, selbstsichere Entscheidungen zu treffen. Die Sexualität gehört entmystifiziert, und wir müssen klarstellen, dass wir über unseren Körper selbst bestimmen.“

Mythen aufklären

Diese Buchreise klärt nicht nur grundlegende Dinge auf eine fundierte, aber wie von einer Freundin bei einem Glas Wein erzählten Art und Weise, sondern fegt auch viele Mythen vom Tisch. So ist das sagenumwobene Jungfernhäutchen etwa „keine Frischhaltefolie, die reißt, sobald man hineinsticht“, sondern das Hymen ist vielmehr eine Art Kranz, der sich bei jeder Frau anders gestaltet. Außerdem wichtig: Die wenigsten Frauen kommen alleine durch vaginale Stimulation.

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Sind die anatomischen Ungereimtheiten erst einmal aus dem Weg geräumt, liegt das Augenmerk wie schon während der „alten“ sexuellen Revolution in den späten 1960ern und frühen 1970ern auf dem eigentlichen Höhepunkt der sexuellen Revolution: der Liebe.

Entkoppelung

Sexualität als Frauenrecht machte damals die Einführung der Antibabypille und der straffreien Abtreibung möglich. „Waren es die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, die hier für Frauen völlig neue Welten erschlossen, so geht die ,neue’ sexuelle Revolution mit einer Autonomisierung unserer Triebe einher“, konstatiert die Münchner Sexualtherapeutin Heike Melzer: „Drehscheibe der Veränderung ist diesmal weniger die Fortpflanzung als vielmehr die Befreiung unserer Triebe durch die Möglichkeit, Lust völlig autonom in einer Welt sexueller Superstimuli zu erleben.“

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Mit Superstimuli meint sie Pornos, andauernd wechselnde Sexpartner oder Hightech-Sex-Toys. In ihrem neuen Buch „Scharfstellung“ führt sie das sich wandelnde Sexleben der Gesellschaft – ihre Peergroup sind ihre Patienten – auf das Internet zurück, das „Sex von der Leine gelassen“ hat.

Der so digital beschleunigte Sex des 21. Jahrhunderts habe nicht nur dramatische Auswirkungen auf unser Beziehungsverhalten, Privat- und Arbeitsleben, sondern führe zu einer Liberalisierungswelle sexueller Präferenzen.

Für Frauen hat das in der Quersumme vor allem eines zur Folge: einen Orgasmus. Denn der ist heute selbstbestimmt. „Die männlich dominierte Medizinwelt hat kein besonderes Interesse daran, die Klitoris weiter zu erforschen“, konstatieren Støkken Dahl und Brochmann.

Weiblicher Orgasmus

Die Schweizer Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan bestätigt in ihrem Buch „Coming Soon“: „Man hat sich so lange nicht mit ihm befasst, weil es ihn rein biologisch betrachtet nicht braucht. Die Frau muss keinen Orgasmus haben, um schwanger zu werden. Ob sie kommt oder nicht, ist für die Fortpflanzung relativ egal.“ Übernommen haben das gewinnbringend Firmen wie Fun Factory und der Womanizer.

Das Anrecht auf Lust wird immer öffentlicher und selbstverständlicher. Und auch erforschter.

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In den Tenor der Expertinnen stimmt die Wiener Sexualberaterin Nicole Siller ein, wobei sie betont: „Über viele Generationen vererbte und oftmals auch unbewusst weitergegebene Verhaltensmuster und Sichtweisen wirken natürlich immer noch nach.“ Oft sei die eigene Sexualität noch ein Tabu, während einen das Thema Sex gleichzeitig von jeder Ecke anspringt.

Pornos schaffen Mythen

Glaubensansätze und Mythen hemmen uns heute wie damals. Heute ist es vor allem die Pornoindustrie, die ständig neue Mythen schafft. Zum Beispiel: Frauen kommen alleine durch wilden Geschlechtsverkehr, Analverkehr ist normal, wer nicht mitmacht, ist verklemmt.“ Pornos können zwar anregen und inspirieren, doch Art und Dosis machen das Gift.

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In ihrem Buch „Finde deine Lust!“ lädt Siller Frauen ein, ihr Lusterleben freier und gesünder zu begreifen und zu gestalten. „Viele von uns durften im Heranwachsen einfach wenig sexuell wert- und lustvolle Bildung oder den entsprechenden Raum dafür genießen. Das kann man aber nachholen.“ Ihr wichtigstes Credo: Nur wer sich selbst gut spürt, kann anderen viel näher sein.

Und das gilt für jedes Alter: „Die Möglichkeiten und Bedürfnisse ändern sich im Laufe des Lebens. Nur weil wir mit Anfang 20 vielleicht viel Spaß am Sex haben, heißt das noch nicht, dass uns mit 57 dieselben Spielvarianten glücklich machen. Nur weil wir mit 35 vielleicht noch nie einen Orgasmus hatten, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht mit 36 oder 80 den besten Sex unseres Lebens genießen können.“

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Ob bewusst oder unbewusst, jeder Mensch trägt Meinungen über „richtig“ und „falsch“ mit sich herum, ist geprägt von mehr oder weniger gut gemeinten Ratschlägen, von Erfahrungen, Filmen und mehr. „Manche dieser Ansichten hindern uns nachhaltig daran, selbstbewusst und leidenschaftlich zu lieben bzw. uns fallen zu lassen.

Glaubensansätze, die hemmen

So glauben manche Frauen, dass sie sexuell funktionieren müssen, um den anderen und die andere zu befriedigen, manche fühlen sich nicht schön genug oder denken, dass sie ihre Lust nicht zeigen dürfen“, sagt Nicole Siller. Die Sexualberaterin nennt in ihrem neuen Buch einige „Glaubenssätze“, die für Frauen hinderlich sind und empfiehlt diese bewusst zu hinterfragen:

  • Ich fühle mich nur dann besonders begehrt, wenn ich ...
  • Ich darf keinesfalls zeigen, dass ...
  • Damit ich als erotische Frau gesehen werde, muss ich ...
  • Frauen dürfen beim Sex keinesfalls ...
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„Versuchen Sie, den einen und wichtigsten Glaubensansatz herauszufiltern und nehmen Sie ihn mit folgenden Fragen unter die Lupe: Ist das wirklich wahr? Wer sagt das? Wie geht es mir, wenn ich das denke? Was wäre, wenn das Gegenteil genauso wahr wäre? Wie geht es mir, wenn ich das Gegenteil denke? Welche Gedanken könnten meine Haltung dazu ändern?“ Gedanken lassen sich nicht mit einem „Aha“ wegwischen, aber man kann neue, freiere einpflanzen.

Darüber sprechen

Schlussendlich gilt: Tabuisierung provoziert Sprachlosigkeit und damit Mythen. Nur wenn über ein Thema nicht gesprochen wird, wenn dadurch wenig Wissen über sich selbst und andere besteht, müssen Unwahrheiten geglaubt werden. Langsam bricht dieses Tabu nun auf.

Mit weiblicher Sexualität beschäftigt sich übrigens auch der Dokumentarfilm "Female Pleasure", der derzeit in den Kinos zu sehen ist.

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