Warum das Gehirn der allerwichtigste Muskel ist
Von Dorothe Rainer
Ann spielt seit über 20 Jahren Bratsche. Die asymmetrische Belastung hat über die Jahre zu Problemen in der rechten Schulter geführt, die immer wieder kommen.
Joy Ackwonu, Feldenkrais-Praktizierende, sieht sich Ann sehr genau an, erst im Stehen, dann im Sitzen und später im Liegen. Vorsichtig bewegt sie den Kopf, die Schulter, den Arm, um sich ein Bild des momentanen Ist-Zustandes zu machen.
Muster durchbrechen
Mittels feiner Berührungen und Bewegungen wird der Haltetonus untersucht. Ann lernt dabei wahrzunehmen, was schon bei kleinen Bewegungen bei ihr nicht rundläuft.
Etwa, dass sich, wenn sie den Geigenbogen zur Hand nimmt, automatisch die Hüfte hebt. Dieser „eingefleischte“ Ablauf soll und muss durchbrochen werden, wenn man eine Verbesserung der Symptome möchte.
„Wir appellieren dabei ans Gehirn, denn die Muskeln selber sind ja dumm“, sagt Joy mit einem Lächeln. Indem dem Gehirn neue Bewegungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, beginnt es, diese zu speichern und „je öfter man trainiert, desto selbstverständlicher wird die neue Bewegung.“
So verändert sich die Spannung der unwillkürlichen Muskulatur und längst „abgeschaltete“ Bereiche können wieder in das Bewegungsmuster integriert werden. Das Credo von Begründer Moshé Feldenkrais lautet: „Wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst.“
Wer regelmäßig Feldenkrais praktiziert, kann sich über positive Effekte freuen, die von einem effizienteren, einfacheren Umgang im Alltag bis hin zur Verbesserung von Bewegungsmustern reicht. So ist das Gehen ein ganz wichtiger Bereich der Körperarbeit.
Feldenkrais gibt es aber nicht nur im Einzelunterricht. Unter dem Motto „Bewusstsein durch Bewegung“ (awareness through movement) werden Gruppenstunden abgehalten.
Hier werden dem Nervensystem über die spielerische Erkundung von Bewegung neue Informationen über funktionale Abläufe gegeben, so lange bis sie im Gehirn abgespeichert werden. Interessant: Die Lehrerin gibt ihre Anweisungen nur mündlich, denn die Schüler sollen ihren ganz individuellen Bewegungen folgen und nicht ihre nachahmen. Nur so lernt der Mensch Eigenständigkeit.
Info:
Eine Feldenkrais-Stunde dauert zwischen 60 und 75 Minuten. Die erste Stunde im Feldenkraisinstitut ist gratis. Man braucht bequeme Alltagskleidung.
Wer war ... Moshé Feldenkrais?
Feldenkrais war Ingenieur, Physiker und Judo-Meister. Er untersuchte die Logik der Bewegungen aus unterschiedlichen Perspektiven. 1904 in der heutigen Ukraine geboren, wanderte er nach Palästina aus, studierte in Frankreich und flüchtete vor den Nazis nach Schottland.
Eine Knieverletzung war der Anlass, sich systematisch mit dem Lernen am eigenen Körper zu befassen. 1949 erschien sein erstes Buch „Body and Mature Behaviour“ (Deutsch: „Der Weg zum reifen Selbst“).
Von Israel aus breitete sich die Methode in Europa und den USA aus. 1955 eröffnete er ein Studio in Tel Aviv, sein berühmtester Schüler war David Ben Gurion. Er schrieb mehrere Bücher. Moshé Feldenkrais starb 1984.
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